Russland und Ukraine. Ausblick auf Kirchen und Ökumene

Karl-Heinz Ulrich
Unter dieses Thema hatte die deutsche Sektion des Vereins G2W am 30. September in Stuttgart ihre Jahrestagung gestellt. Im Anschluss an die Mitgliederversammlung des Vereins fand eine Podiumsdiskussion statt. Renommierte Referenten hielten Kurzvorträge zum Thema.
Auf dem Podium saßen
- Gisela Bauer, Professorin für Kirchengeschichte am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Köln
- Dietrich Brauer, Erzbischof Emeritus der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands, Ulm
- Andriy Mykhaleyko, PD Mittlere und Neuere Kirchengeschichte Katholische Universität Eichstädt-Ingolstadt
- Dr. Regula M. Zwahlen Guth, Redakteurin der Zeitschrift RGOW und stellv. Institutsleiterin, Zürich. Sie moderierte die Diskussion, an der sich auch per Zoom zugeschaltete Mitglieder des Vereins beteiligten.
Die Moderatorin Zwahlen Guth begann mit einem Impulsreferat, an das sich die Kurzvorträge der anderen Podiumsteilnehmer anschlossen.
Sie erläuterte, dass seit dem eigentlichen Kriegsbeginn 2014 fast alle G2W-Zeitschriften über die kriegerischen Handlungen in der Ukraine berichtet haben. Dabei ging es meistens um die Darstellung der aktuellen Lage in der ukrainischen Bevölkerung. Es wurden aber auch die Hintergründe des Konflikts beleuchtet.
Ein wesentlicher Schritt in Richtung Krieg gegen die Ukraine war ihrer Ansicht nach der Bruch des Budapester Memorandums vom 5. Dezember 1994 durch Russland. Dort war der Ukraine die Sicherheit u.a. durch Russland garantiert worden. Als Gegenleistung hatte sie dafür die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen der ehemaligen UdSSR an Russland übergeben.
Nach Meinung der Moderatorin hat Russland nicht, wie es immer behauptet, Angst vor einer NATO-Osterweiterung, sondern vor den demokratischen Bestrebungen in Belarus und der Ukraine, die auf die Bevölkerung im eigenen Land überspringen könnten.
Die religiöse Dimension dieses Konflikts besteht für sie darin, dass der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) in Moskau, Kyrill I. den Krieg als einen religiösen Krieg überhöht, ihn vehement unterstützt und somit vor dem Volk kirchlich legitimiert. Im Gegenzug unterstützen alle Kirchen der Ukraine die Notwendigkeit der militärischen Verteidigung des Landes. Nach ihrer Auffassung gibt es keine theologische Rechtfertigung des Krieges, wie sie Kyrill propagiert.
Andriy Mykhaleyko von der Katholischen Universität Eichstädt-Ingolstadt, von Herkunft Ukrainer, konstatierte in seinem Beitrag, „wir leben in einer geschichtsträchtigen Zeit mit gewaltigen Umbrüchen und Veränderungen von bisher sicher geglaubten Selbstverständlichkeiten“. Die spannende Frage in diesem Krieg sei für ihn, welche Rolle die Kirchen auf beiden Seiten dabei weiterhin spielen werden.
Jeder Krieg muss von der kriegsführenden Partei der Bevölkerung erklärt werden. Der Staat steht in der Pflicht, seinen Bürgern deutlich zu machen, warum sie gegen ein anderes Land kämpfen sollen. Russland legitimiert diesen Krieg vorwiegend mit Hilfe der Orthodoxen Kirche in Moskau.
Russlands Blick, also Putins und Kyrills, geht zurück auf das „Goldene Zeitalter“ des Kiewer Rus. Nach ihrer Geschichtsinterpretation war damals Russland die führende Macht, staatlich und religiös. Für sie ist darum logischerweise das ukrainische Territorium „Teil eines gemeinsamen geistlichen Raums“, auf den nur die ROK Anspruch als alleinige Kirche hat. Das staatliche und das kirchliche Territorium der Ukraine sind nach ihrer Auffassung eines: Russland. Für Putin und Kyrill ist darum die Ukraine als Staat ein „Missverständnis”. Es sollte sie eigentlich gar nicht geben, ebenso wenig wie eine selbständige ukrainische Orthodoxe Kirche.
Die Ukraine dagegen hat einen anderen Blick auf ihre schon viel längere Geschichte und das „Goldene Zeitalter“ des Kiewer Rus. Nach jahrhundertelangen Bemühungen feierte sie darum 1992 das Ziel ihrer Geschichte: ein eigener Staat zu sein. Auch die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) versteht das jetzige Staatsgebiet als ihren Raum, aber nicht als ihren alleinigen. Sie teilt ihn sich geschwisterlich mit anderen christlichen Konfessionen.
Anfänglich hatte die OKU keine Probleme damit gehabt, dass das Moskauer Patriarchat nach der Unabhängigkeit der Ukraine weiterhin eine Vielzahl von Gemeinden in der Ukraine nach den Vorgaben Kyrills „regiert“. Das änderte sich nach dem Kriegsbeginn 2014. Die ukrainische Orthodoxe Kirche trennte sich 2019 von der ROK und versteht sich jetzt mehr als Nationalkirche als zuvor. Die ROK jedoch erhebt weiterhin den Anspruch, alleinige Kirche für das Territorium der Ukraine zu sein. Nach diesem Verständnis wäre sie größte Kirche innerhalb der Orthodoxie.
Wohl nicht zu Unrecht fürchtet sie, durch den Verlust ihrer Gemeinden in der Ukraine zu einer unbedeutenden Regionalkirche zu werden.
Dietrich Brauer war bis vor Kurzem das Oberhaupt aller Evangelisch-Lutherischer Kirchen und Gemeinden im riesigen russischen Reich. Nach eigener Darstellung hat er aus Überzeugungsgründen sein Amt und das Land verlassen und lebt jetzt in Ulm.
Wenn man die Geschichte Russlands anschaut, so sein Referat, haben die Deutschen, und hier vor allem die Lutheraner, dieses riesige Land von Anfang an und über Jahrhunderte mitgeprägt. Der Bruch geschah mit der russischen Revolution. Es folgten die Deportation vieler Deutscher und die nachhaltige Zerstörung der Kirchen durch den Stalinismus und den Sozialismus in der UdSSR.
In der Folge der Perestroika haben die Kirchen, auch die Lutherische, wieder eine gewisse Anerkennung und Eigenständigkeit durch den Staat erfahren. In der gegenwärtigen Situation jedoch erwartet der russische Staat von allen christlichen Kirchen die uneingeschränkte Zustimmung zum Krieg gegen die Ukraine. Der Druck auf die Kirchenleitungen und deren Repräsentanten sei enorm. Viele seien eingeknickt und stehen offen zu dieser Forderung. Er war fassungslos über die Meinungsänderung mancher Kollegen und darüber, dass diese Kollegen Druck auf ihn ausgeübt hätten. Das ist einer der Gründe, warum er (Brauer), mit seiner Familie das Land verlassen habe.
Nach seiner Darstellung unterstütze die Mehrheit der christlichen Kirchen in Russland die „spezielle Militäroperation“ Putins aus Angst oder aus Nichtwissen. Die Pfarrer müssten jetzt auch die Mobilmachung unterstützen und ihre Rechtmäßigkeit vor den Gemeindemitgliedern erklären.
Kritisch denkende Mitglieder in den lutherischen Kirchen und Gemeinden sind plötzlich konfrontiert mit ausweglosen Anforderungen. Sie haben keine Alternativen.
Bisher waren sie mit einer militärischen Auseinandersetzung konfrontiert gewesen, die nur im TV stattfand, aber jetzt ist sie auch für sie unausweichlich real geworden.
Es gibt von staatlicher Seite Erpressungen und Einschüchterung gegen die Lutherischen Kirchen. Man dürfe in den Gottesdiensten nicht für den Frieden beten, sondern nur für die „spezielle Operation“.
Es ist in dieser Situation eigentlich unmöglich, das Evangelium von der Feindesliebe Jesu zu verkünden, so Brauer. Christen müssen wieder heimlich nach Wegen suchen, auf andere Art Gottesdienst zu feiern, gegen Angst und Verzweiflung, in einer ausweglosen Situation. „Was werden wir sagen, woran uns erinnern, wenn wieder Frieden ist? Bis dahin können wir nur hoffen und beten…“
„Die Orthodoxe Kirche in Russland hat die Lektionen der Geschichte nicht gelernt. Diese Religion spielt eine katastrophale Rolle, weil sie als Handlanger des Staates agiert. Sie sagt klar, wer gut und wer böse sei: Ost und West. Das ist nicht nur Ausdruck von Ideologie, sondern es ist Verblendung“, so Brauer.
Gisela Bauer, die Professorin für Evangelische Kirchengeschichte, berichtete von ihrer Teilnahme an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) im September in Karlsruhe. Obwohl es gegenwärtig viele Kriege auf unserer Erde gibt, nahm der in der Ukraine bei der Tagung doch einen besonderen Stellenwert ein. Selbst unser Bundespräsident kritisierte Russland, Staat und Kirche gleichermaßen, auf einem Weg der Blasphemie zu sein.
Bei dieser Versammlung begegneten sich nolens volens die Vertreter der Orthodoxen Kirchen aus Russland und der Ukraine. Es sei spannend gewesen zu erleben, wie unterschiedlich sich die Delegationen verhielten.
Es stand auch die Forderung im Raum, die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) aus dem ÖRK auszuschließen. Nach langen Debatten sprach sich die Mehrheit der Delegierten dagegen aus. Man wollte, dass die ROK und die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK) an einem Tisch zusammenkommen und bleiben sollten. Denn eigentlich kann man nach dem Selbstverständnis des ÖRK keine Mitgliedskirche aus dem Weltbund ausschließen. Aber man fragte sich bisweilen schon, was denn die ganzen Bemühungen sollten, wenn die Teilnehmer der russischen Delegation nur mit Zustimmung ihres Staates an Gesprächen teilnehmen durften, an denen auch Ukrainer teilnahmen.
Der ÖRK war letztlich überfordert bei dem Versuch, zwischen den beiden Mitgliedskirchen zu vermitteln, weil sie sich als jeweils die „Rechtgläubigen“ verstehen… Am Ende hatten sie gerade nur noch den kleinsten gemeinsamen Nenner, den Glaube an Jesus Christus.