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Flüchtlingshilfe für Bessarabien 2022

Brigitte Bornemann · 07. April 2022
Friedenstaube für die Ukraine
Friedenstaube für die Ukraine

Der Angriff der russischen Armee auf die Ukraine am 24.02.2022 traf uns nicht völlig unvorbereitet. „So Putin will“ sagten wir schon Wochen vorher, wenn es um konkrete Vorhaben in Bessarabien ging. Manche fragten sich, ob es überhaupt noch Sinn mache, Pläne zu schmieden. Doch im Bessarabiendeutschen Verein halten wir es mit Luther: „Wenn ich auch wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen.“

Wie richtig helfen?

Die seit langem vorbereitete „Bessarabienkonferenz“, in der wir unser Engagement in Bessarabien und der Dobrudscha neu bestimmen wollten, fand wie geplant am 26.02.2022 statt. Mit 20 anwesenden Bessarabienkennern konnten wir beraten, wie den Menschen in unseren Herkunftsgebieten in der aktuellen Notlage am besten zu helfen sei.

Am dritten Tag des Krieges konnten wir uns nicht vorstellen, dass die Ukraine standhalten würde. Wir rechneten mit einem schnellen Ende und der Errichtung eines Gewaltregimes, das sich bis in „unsere“ abgelegenen Dörfer durchsetzen und auch uns Bessarabiendeutsche zur Anpassung zwingen würde, wenn wir weiter dort präsent sein wollten. Diese beklemmende Aussicht blieb uns, Gott sei Dank, durch den entschlossenen Widerstand der Ukrainer bisher erspart. Doch bis zu einem Ende des Krieges wird es noch viel Zerstörung und Leid der Zivilbevölkerung geben. Man spricht von 10 Millionen Flüchtlingen, ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung, die sich auf den Weg machen werden.

Wie soll der Bessarabiendeutsche Verein mit seinen begrenzten Kräften sich in dieser weltpolitischen Lage positionieren? Was kann man in den Kriegswirren überhaupt tun? Auf der Bessarabienkonferenz gingen die Meinungen auseinander. Die einen nannten konkrete Notfälle und verlangten sofortige Hilfeleistung. Die anderen wollten sich lieber der Diakonie anschließen, die in der Katastrophenhilfe routiniert ist. Den Ausschlag gaben dann unsere Mitglieder. Viele riefen an und wollten helfen, aber die Hilfe sollte möglichst ihrem Dorf zugutekommen, ihrer Heimatgemeinde.

Damit war klar: der Bessarabiendeutsche Verein muss selber aktiv werden. Wir richteten ein Spendenkonto „Flüchtlingshilfe“ ein und berichteten darüber auf unserer Homepage. In den ersten drei Wochen gingen knapp 30.000 EUR ein – ein Betrag, der die bisherigen Dimensionen unserer Bessarabienhilfe sprengt. Wie können wir diese Mittel zielführend einsetzen?

ERMSTAL HILFT

Der Leiter unserer Bessarabienhilfe Simon Nowotni wurde durch einen Hilferuf aus Odessa auf den Plan gerufen. Eine befreundete Familie war von den Angriffen des ersten Kriegstags betroffen und wollte fliehen. Simon Nowotni skizzierte auf der Bessarabienkonferenz ein Hilfsprojekt, das Flüchtlinge aus dem Kriegsgebiet aufnehmen und in private Quartiere in unserer Nachbarschaft vermitteln sollte. Uns war gleich klar, dass der Bessarabiendeutsche Verein mit der jetzigen Personaldecke ein solches Projekt nicht stemmen kann; es müsste eine Freiwilligenorganisation aufgebaut werden.

Nach zwei Tagen stand das Projekt ERMSTAL HILFT unter der Regie von Simon Nowotni und Martin Salzer, dem Leiter der Georg-Goldstein-Schule in Bad Urach, die im Jugendaustausch mit Bessarabien mitwirkt. Sie holten die Stadtverwaltungen Dettingen und Bad Urach mit ins Boot. Bald war eine Sammelstelle für Hilfsgüter eingerichtet und ein Spendenaufruf im Internet geschaltet.

Binnen einer Woche fuhr der erste Transport los. Anders als in Friedenszeiten konnte man nicht in die Ukraine hineinfahren, sondern musste die Ladung an der Grenze umpacken. Der neue Bürgermeister von Arzis Sergey Parpulansky erwies sich als der geeignete Partner vor Ort. Mit seinem gut organisierten Team holte er die Lieferung an der Grenze ab und verteilte die Hilfsgüter an bedürftige Familien. Auf der Rückfahrt nach Dettingen fuhren 14 Personen aus Odessa und Ismail mit. Darunter waren zwei ukrainische Deutschlehrerinnen, die seitdem in Dettingen die Vermittlung von Flüchtlingen organisieren.

Nach drei Wochen hat das Projekt ERMSTAL HILFT 3 Hilfsgütertransporte mit einer Ladung von insgesamt 21,5 t durchgeführt. Hilfsgüter sind Lebensmittel, Hygieneartikel, Winterkleidung, Bettdecken, Medizinbedarf, gepackt nach Bedarfslisten aus der Ukraine. Empfänger waren bisher das Deutsche Haus in Tarutino sowie die Stadtverwaltungen in Arzis, Akkerman und Sarata. Auf der Rückfahrt werden jedesmal zuvor angemeldete Flüchtlinge mitgenommen. Bisher sind 140 Personen im Ermstal angekommen und meist in Privatunterkünfte vermittelt worden.

Zu dieser beeindruckenden Bilanz kann man Simon Nowotni und seinem Team nur gratulieren. Die Bessarabienhilfe hat er in ein großes Netzwerk eingebunden und ihr dadurch einen großen Dienst erwiesen.

Lücken im Geldverkehr – Erfahrungen aus einem moldawischen Grenzort

Bei der Bessarabienkonferenz berichtet Dr. Claus Eppe aus dem ehemals deutschen Ort Stefan Voda / Kisil in Moldawien, nicht weit von der Grenze zur Ukraine. Er betreut den Ort seit zwei Jahren als Senior Expert. Am zweiten Kriegstag erreicht ihn ein Hilferuf: der Grenzübergang Palanca im Ortsteil Volintiri ist von Flüchtlingen überlaufen, sie können die vielen Menschen nicht aus eigenen Mitteln versorgen.

Claus Eppe rät dem Bürgermeister von Volintiri, ein Spendenkonto einzurichten, und verbreitet die Nachricht in den sozialen Medien. Auch wir veröffentlichen das Spendenkonto, müssen die Information aber bald wieder zurücknehmen, denn so einfach ist es nicht. Es stellt sich heraus, dass die deutschen Banken nicht oder nur mit weit überhöhten Gebühren Überweisungen in die Republik Moldau ausführen. Transferbanken im Internet sind nur für kleinere Beträge unproblematisch. Da ist eine Lücke im internationalen Geldverkehr, die uns jetzt erst richtig auffällt. Bisher haben wir Geld meist durch Boten nach Bessarabien gebracht, auch weil unsere Partner dort oft kein Bankkonto hatten. Wir werden uns schlau machen, wie wir Geld nach Stefan Voda senden können.

Die Flüchtlingshilfe in Stefan Voda läuft mit der breiten Unterstützung jetzt sehr erfolgreich. Außenministerin Annalena Baerbock besuchte den Grenzübergang Palanca und war beeindruckt.

Einzelfallhilfe im Tandem

Unser Mitglied Vladimir Andronachi, vielen bekannt als Reiseleiter in Bessarabien, lebt jetzt in Deutschland und wollte seine Familie in Chisinau besuchen, als der Ukraine-Krieg ausbrach. Gleich meldete er sich im Bessarabiendeutschen Verein und bot seine Hilfe an. Wir vereinbarten, dass er Flüchtlingscamps in Moldawien aufsuchen sollte. Doch seine Reise wurde kurzfristig abgesagt.

Die geplante Flüchtlingshilfe konnte Vladimir Andronachi dennoch gemeinsam mit seinem Bruder Andrej organisieren. Er wandte sich an das Verteilerzentrum in der Kreisstadt Cahul, das ihn an einen orthodoxen Priester im Grenzort Cantemir (nicht weit vom ehemals deutschen Dorf Wischniovka) vermittelte. Insgesamt 1.500 EUR waren ihm vom Bessarabiendeutschen Verein und von einem privaten Spender zur Verfügung gestellt worden, die er seinem Bruder per Banktransfer übermittelte. Andrej besorgte nach einer Einkaufsliste des Priesters Lebensmittel, Babywindeln und Pellets zum Heizen, und lieferte die Waren an bedürftige, privat untergebrachte Flüchtlingsfamilien. Ein wenig Handgeld für jede Familie war mit
dabei.

Die Andronachi-Brüder haben mit ihrer einfallsreichen und umsichtigen Hilfsaktion gezeigt, dass die in unserer Bessarabienhilfe gepflegte Einzelfallhilfe auch unter Kriegsbedingungen weiterhin möglich ist. Wir sollten sie gezielt für individuelle Notfälle einsetzen.

Bürgerschaftliches Engagement in Bessarabien stärken

Unser Mitglied Maximilian Riehl sendet Nachrichten aus seiner Heimatgemeinde Krasna. Darin lese ich, dass sein Sohn Otto Riehl Geldspenden an die Bürgermeisterin von Krasna sendet. Ich frage ihn nach seinen Erfahrungen mit dem Bankverkehr und höre, dass er mit der WISE Transferbank bereits einige Tausend Euro überwiesen hat. Der Empfänger sollte „Plastikgeld“ haben, also ein Bankkonto mit Kontokarte. Bargeldlose Einkäufe sind im Moment in Krasna noch möglich, während Bargeld in den Banken nicht oder nur streng rationiert ausgegeben wird.

Erstaunt bin ich wenige Tage später, als ich lese, wie die Kasnaer mit dem plötzlichen Geldsegen umgehen. Otto Riehl veröffentlicht in der Facebook-Gruppe der Gemeinde Krasna jeden einzelnen Geldbetrag, den er als Spende aus der weltweiten Gemeinde der Nachkommen deutscher Krasnaer erhält. Wir erfahren, dass sich im Ort eine Frauengruppe gebildet hat, die über die Verwendung der Spendengelder berät und ihre Überlegungen in Facebook veröffentlicht. Die vorgeschlagenen Maßnahmen reichen von der Reparatur einer Straßenlaterne bis zur Unterstützung von Kranken. In der Diskussion werden weitere bedürftige Personen genannt und in die Liste aufgenommen. Ein Verdacht wird geäußert, dass bestimmte ethnische Gruppen bevorzugt würden. Dies wird energisch von mehreren Personen zurückgewiesen: Krasna sei ein Vielvölkerdorf, man achte auf gerechte Verteilung.

Eine Woche später wird berichtet über eine große Kochaktion zur Versorgung der regionalen Streitkräfte. Die „Krasnaer Jungs“ werden mit Pelmeni verwöhnt, viele Kilo Fleisch sind darin verarbeitet. Die Krasnaer Frauen sind sichtlich stolz auf ihren Beitrag zur Landesverteidigung.

Diese Geschichten aus Krasna sind ganz anders als die früher aus den Heimatgemeinden berichteten. Damals ging es um korrupte Bürgermeister, die Geldspenden in die eigene Tasche steckten, und um unselbständige Kindergärtnerinnen, die sich schwertaten, eine Geldspende anzunehmen und davon Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Heute scheint der sowjetische Nachhall langsam zu verblassen. Es gibt immer mehr Beispiele, dass die Bewohner der ehemals deutschen Dörfer Verantwortung übernehmen und die ihnen zugedachte humanitäre Hilfe selbst verwalten. Wir suchen jetzt gezielt nach Heimatgemeinden, die bereit sind, eine Geldspende anzunehmen, sie zweckbestimmt zu verwenden und einen Nachweis hierüber an
uns zurückzumelden. Erste Klärungen laufen im Moment mit der Gemeinde Seimeny.

Was brauchen die Menschen in Bessarabien, um den Krieg zu überstehen?

Die Grenzorte in der Republik Moldau brauchen Hilfe bei der Versorgung der ukrainischen Flüchtlinge, das ist offensichtlich. Der Budschak dagegen, das ukrainische Bessarabien, ist von russischen Angriffen und auch von größeren Flüchtlingsströmen bisher weitgehend verschont geblieben. Dennoch leiden auch hier die Menschen unter der beginnenden Lebensmittelknappheit und Teuerung. Um sie zu versorgen, bringen wir ihnen Hilfsgüter, das ist der klassische Weg. Daneben werden jetzt auch Geldsendungen möglich, eine wichtige Ergänzung dort wo es noch einen Markt gibt.

Egal welchen Weg wir wählen, wichtig ist, dass wir unsere Freunde in Bessarabien in der Stunde der Not nicht allein lassen. Es ist auch in unserem Interesse, dass die Menschen dort bleiben können und nicht flüchten müssen. Sie sind es, die die Häuser unserer Großeltern bewohnen und vor dem Verfall bewahren. Wenn der Krieg vorbei ist, wollen wir wieder nach Bessarabien reisen und in unseren Heimatgemeinden einkehren.