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Die Kirchenbrücke

Kichenbrücke von Gustav Tarnaske, Foto von 2014
Kichenbrücke von Gustav Tarnaske, Foto von 2014
Meisterbrief von Gustav Tarnaske

Meisterbrief von Gustav Tarnaske

Als ich 1993 zum ersten mal Tarutino, die Heimat meiner Vorfahren, besuchte, wurde ich von einer Einwohnerin an die sog. Fürstenquelle geführt. Ich sollte das sehr schmackhafte Wasser unbedingt trinken, denn es sei gesegnet, wurde mir gesagt. Nun, ob es gesegnetes Wasser war, sei mal dahingestellt. Auf jeden Fall war es sehr erfrischend und durchaus wohlschmeckend.

Diese Quelle in der überwiegend wasserlosen Steppenlandschaft von Südbessarabien (Budschak) war sicherlich der Grund dafür, dass sich deutsche Kolonisten ab 1814 genau hier ansiedelten und einen Ort gründeten, der drei Jahre später den Namen Tarutino erhielt und danach die größte Gemeinde und Hauptort unter den über 150 deutschen Kolonistendörfern in Bessarabien wurde. Aus der Fürstenquelle entspringt der kleine Steppenfluss Anschokrak, der durch Tarutino fliest und in den Kogilnik mündet.

Die Kirchenbrücke In den 1930er Jahren erhielt mein Großvater Gustav Tarnaske, der Maurermeister in Tarutino war, von der Kommune Tarutino den Auftrag für eine kleine Steinbrücke über den Anschokrak, die eine direkte Verbindung zu der gleich dahinterliegenden großen protestantischen Kirche von Tarutino herstellte. Nach der Errichtung der Kirchenbrücke ging der Baumeister Gustav Tarnaske wohl selbst nicht oft über diese Brücke, da er kein großer Kirchgänger war. Er blies die „erste Trompete“ in der Tarutinoer Blaskapelle und war Samstagabend oft musikalisch unterwegs, so dass er Sonntagvormittag, wenn die meisten Tarutinoer in die Kirche gingen, ausschlief. Allerdings, einmal im Jahr, an Heiligabend, war mein Großvater neben dem Oberpastor Haase die wohl bedeutenste Person in der Kirche. Vom Kirchturm blies er auf seiner Trompete das Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ und sicherlich lauschte ganz Tarutino seinem Trompetenspiel.

Die Tarutinoer Kirche wurde im 2. Weltkrieg zerstört und die Kirchenruine nach dem Krieg abgetragen. Heute befindet sich an der Stelle eine Parkanlage und bis auf einen Pfeiler der ehem. Kirchenmauer erinnert nichts daran, dass hier einmal die wohl größte deutsche Kirche im Schwarzmeergebiet gestanden hat. Allerdings, die kleine Kirchenbrücke hat bis heute der Zerstörung durch Krieg und Wasserfluten getrotzt. Als um 1990 eine große Wasserflut durch das Flußbett des Anschokrak raste, wurde eine Steinbrücke in der Nähe der Kirchenbrücke zerstört und die Trümmer der Brücke lagen bei meinem Besuch 1993 noch im Flußbett. Die Kirchenbrücke aber trotzte dieser „Sintflut“! War es eine „höhere Macht“, die zwar die Kirche selbst nicht vor der Zerstörung retten konnte, nun aber wenigstens die Kirchenbrücke vor dem Einsturz bewahren wollte, oder lag es an dem handwerklichen Können und der soliden Bauweise des Maurermeisters Gustav Tarnaske mit seinen Gesellen? Wir Nachgeborenen können es nur vermuten, aber nicht wissen.

Das Vertrauen der Tarutinoer in ihre Brückenbauer konnte mit ihrem großen Gottvertrauen nicht mithalten. Als der ältere Bruder meines Großvaters, Jakob Tarnaske, eine Straßenbrücke über den Anschokrak gebaut hatte, weigerten sich die Tarutinoer, über diese Brücke zu fahren. Erst als der Baumeister selbst mit einem beladenen Pferdefuhrwerk über die neue Brücke fuhr, wurde die Brücke von den Tarutinoern angenommen.

Nachtrag: Mit der Lutherkirche entstand 1956 in Neu Wulmstorf, das zwischen Buxtehude und Hamburg liegt, eine „Auferstehung“ der Tarutinoer Kirche. In Neu Wulmstorf siedelten in den 1950er Jahren 70 Familien aus Tarutino inkl. des Maurermeisters Gustav Tarnaske mit seiner Familie. Die protestantische tarutinoer Gemeinde fand in der Lutherkirche eine neue christliche Heimstätte. In naher Zukunft soll eine neue Straße, die ganz in der Nähe der Lutherkirche vorbeiführt, auf meinen Antrag hin und mit wohlwollender Unterstützung von Bürgermeister und Pastor die Bezeichnug „Tarutinoer Straße“ erhalten. Kein anderer Standort in Deutschland wäre dafür geeigneter.