Die historischen Straßen von Sarata

Viktor Fritz
Die Erlebnisgeneration der Bessarabiendeutschen erinnert sich noch an die bedeutenden Straßennamen von Sarata. Auch die Generation der Nachkommen sowie Historiker, die sich mit der Geschichte des Ortes Sarata beschäftigen, kennen die Lindlstraße, Wernerstraße, Veygelstraße, Kirchstraße, Marktstraße, Bahnhofstraße.
Die Straßen wurden nach der Umsiedlung der Deutschen aus Bessarabien 1940 von neuen Machtbehörden umbenannt, dem System, der Sprache und Schrift angepasst, die Geschichte wurde vor der neuen Bevölkerung verborgen gehalten. Nur die Bessarabiendeutschen haben ihre Heimatgeschichte nicht vergessen wollen, sie haben eifrig daran gearbeitet, um alles was möglich war zu dokumentieren, Dorfpläne zu erstellen, Heimatbücher zu schreiben.
Die Zeit lief, neue Generationen wuchsen heran, Ideologien kämpften um die Vormachtstellung und nun wendete sich das Blatt. Der eiserne Vorhang der Sowjetunion ist gefallen und langsam hat sich wieder einiges geändert. So kam die Zeit im heutigen Sarata umzudenken und sich der Geschichte des Ursprungs zu widmen. Unter Mitwirkung und Nachdruck der intelligenten Öffentlichkeit hat der Gemeinderat von Sarata am 28. April 2016 beschlossen, drei historischen Straßen ihre ursprünglichen Namen zurückzugeben. So gibt es in Sarata seit 2016 wieder die Lindlstraße und die Wernerstraße, die durch die ganze Ortschaft in Richtung Nord-Süd verlaufen, sowie die Veygelstraße, die die beiden ersten quer verbindet. Die historische Kirchstraße, die aus Richtung Akkermann nach Gnadental und Arzis in Ost-West Richtung mit kleinem Bogen um den „Dom in der Steppe“ verläuft, bekam mit gleichem Beschluss den Namen Sobornaja, was wiederrum übersetzt Kirchstraße bedeutet. Dieses Ereignis ist für die Bessarabiendeutschen bestimmt eine freudige Wende.
Nun habe ich aus der Sarataer Zeitung vom 20. Juli 2024 erfahren, dass wieder eine Diskussion um die Umbenennung der aktuellen Gottlieb-Veygel-Straße entflammt ist. Ich setzte mich sofort telefonisch mit in Sarata öffentlich aktiven Leuten in Verbindung und habe an den Diskussionen teilgenommen. Als ich schließlich mit dem zuständigen und mir bekannten Mann aus der Verwaltung telefonisch die Angelegenheit besprechen wollte, stieß ich auf Ablehnung. Er wollte mit mir über dieses politische Thema, wie er es genannt hat, nicht sprechen. Von Leuten habe ich skeptische Meinungen gehört in dem Sinne, dass die Ortsverwaltung nicht auf das Volk hören und eher dem Druck von oben nachgeben wird. All das ermutigte mich nach Bessarabien zu reisen, um dort unter anderen Angelegenheiten (Berichte im MB 12/2024 Seiten 8-9) auch in dieser Frage die Öffentlichkeit in Sarata zu unterstützen. Während meines einwöchigen Aufenthalts in Sarata im vergangenen Oktober konnte ich bei der Sitzung der Kommission für Toponymik, Schutz und Erhaltung des historischen und kulturellen Umfelds der Gemeinde Sarata teilnehmen und eben zum Schutz des historischen Namens Gottlieb-Veygel-Straße, wie sie heute heißt, beitragen.
Alla Koren, Redakteurin der örtlichen Sarataer Zeitung, berichtet über die aktuelle Diskussion: „Immer wieder haben sich Angehörige der in Sarata stationierten Militäreinheit mit der Bitte an die Gemeindeverwaltung von Sarata gewandt, die Gottlieb-Veygel-Straße in die Straße des Oberstleutnants der ukrainischen Streitkräfte Serhiy Derduga umzubenennen. Serhiy Derduga war eine Zeit lang Chef der Militäreinheit in Sarata, war ein verdienter Kommandeur, erhielt zahlreiche staatliche Auszeichnungen und starb im Juli 2022 heldenhaft an der Front des russisch-ukrainischen Krieges. Die Militärs begründeten ihren Antrag damit, dass die Straße an das Gebäude der Militäreinheit angrenzt und sie planen, hier eine Gedenkstätte zum Andenken an die gefallenen Soldaten zu errichten, die mehr als 100 Personen zählen. Ein solcher Vorschlag wurde erstmals im Juni 2024 unterbreitet.
Die von Vladimir Prodanov geleitete Kommission für Toponymik, Schutz und Erhaltung des historischen und kulturellen Umfelds der Gemeinde Sarata schlug den Militärs zunächst eine alternative Straße vor, die damals Pervomayskaya hieß und nach dem Gesetz über die Dekommunisierung umbenannt werden sollte. Diese Option passte den Militärs jedoch nicht, sie fassten den Vorschlag als Ablehnung auf, warfen den Mitgliedern der Kommission sogar mangelnden Patriotismus vor und schickten einen wiederholten Appell.
Die Kommission stellte die Frage gemäß ihrer gesetzlich festgelegten Zuständigkeiten zur öffentlichen Diskussion, die zwei Monate lang dauerte. Die Diskussion war sehr engagiert. 116 Einzelpersonen und eine juristische Person (alle Einwohner der Siedlung) sprachen sich gegen die Umbenennung aus, während 167 Unterschriften seitens des Militärs für die Umbenennung gesammelt wurden (die Mitglieder der Kommission stellten fest, dass viele von ihnen nicht Einwohner von
Sarata sind).
Die Kommission kam zu dem Schluss, dass die Situation einen fortgesetzten Dialog mit den Antragstellern erfordert, die im Oktober erneut die Genehmigung zur Umbenennung jetzt ‚eines Teils der Gottlieb-Veygel-Straße, der nicht zum historischen Teil gehört, oder zur Umbenennung einer anderen Straße‘ beantragten.
Am 23. Oktober 2024 trafen sich die Mitglieder der Kommission mit Vertretern der Militäreinheit. Die Offiziere versicherten, dass sie die Gemeinde nicht beleidigen wollen. Die Kommissionsmitglieder Pjotr Uzunov, Anatoliy Negodyaev, Natalia Koltsun, Alla Koren, Anatoliy Sucharskiy und die Bürgeraktivistin Olga Neboga erklärten, dass Sarata erst jetzt zu seiner wahren Geschichte zurückkehre, indem man sie quasi Stück für Stück wiederherstelle, dass das für die Gemeinde wichtig sei. Auch Viktor Fritz, ein Vertreter des Bessarabiendeutschen Vereins in Deutschland, der bei der Kommissionssitzung anwesend war, wies überzeugend auf die Bedeutung dieser Arbeit für die heutigen Bewohner Saratas hin.
Es ist wichtig zu erwähnen, dass bei der Rückbenennung der Krasnoarmeiska Straße in die Straße eines der Gründer von Sarata, Gottlieb Veygel, viel Aufklärungsarbeit bei den Anwohnern über die Rolle des Vorstehers Gottlieb Veygel bei der Gründung und Entwicklung von Sarata geleistet wurde. Die Anwohner der Straße verstanden und akzeptierten die Informationen und so erhielt die Straße zu Recht ihren ursprünglichen historischen Namen zurück.
Dieses Mal schlug die Kommission dem Militär mehrere Straßen vor, die nach Oberstleutnant Serhiy Derduga benannt werden könnten. Nach Prüfung der vorgeschlagenen Optionen entschied man sich für eine andere Straße mit einem alten, für Sarataer Bürger historischen Namen Vokzaljnaja (Bahnhofstraße). Die Entscheidung über die Umbenennung zu Ehren des Helden der modernen ukrainischen Geschichte wird nach einer weiteren öffentlichen Diskussion getroffen werden.“
So durfte ich doch meine Meinung zu der Angelegenheit bei der Sitzung aussprechen. Meine Rede hielt ich im Anschluss anderer Redner und ich begann sie mit dem Satz: „Es tut mir leid, ich kenne die ukrainische Sprache nicht so gut und, um die Sprache nicht zu verhunzen, werde ich entweder deutsch sprechen oder in der Sprache, die wir, alle hier Anwesenden, sehr gut verstehen.“ Mit fröhlichen Emotionen haben mir die Vertreter des Militärs geantwortet, dass ich ruhig in russischer Sprache sprechen könne. Dann fuhr ich fort, indem ich die Meinung der Vorredner teilte, die auf die ursprüngliche historische Bedeutung des Straßennamens hinwiesen und gegen Umbenennung der Straße stimmten.
Des Weiteren verdeutlichte ich bildlich, dass die Gottlieb-Veygel-Straße ein „Dach“ für die parallel verlaufenden Lindl- und Werner-Straßen darstellt und betonte den Zusammenhalt der für die Gründung des Dorfes Sarata sehr bedeutenden Persönlichkeiten, nach denen die Straßen benannt worden sind. Ich zeigte dann auf das an der Wand im Raum hängende orthodoxe Ikonenbild und sprach weiter: „Wir sind doch Christen und verstehen, was Dreieinigkeit bedeutet. So bedeuten die drei Straßen für Sarata die Einigkeit, man darf sie nicht trennen. Der Ursprung des Dorfes, wo Ihr lebt, muss bewahrt und geschützt werden. Wer hat Sarata gegründet, wessen Kapital floss für den Aufbau und die Entwicklung der Gemeinde und wer hatte die Ideen und Visionen vollbracht und alles weiter verwaltet nachdem Ignaz Lindl Sarata verlassen musste und Christian Friedrich Werner unerwartet verstorben war? Es war der lange amtierende Dorfvorsteher Gottlieb Veygel. In dieser für euch schwierigen Zeit bekommt ihr finanzielle und landverteidigende Unterstützung aus Deutschland, aber momentan geht es nicht darum. Wir Bessarabiendeutschen unterstützen euch schon immer auf allen möglichen Ebenen da hier die Heimat unserer Vorfahren ist und uns Sarata viel bedeutet. Wie sollen wir es bewerten, wenn Ihr vorhabt, die historisch wichtige Straße umzubenennen? Wir werden dieses Geschehen auf internationaler Ebene beobachten.“
Ob meine Rede bei der Sitzung in Sarata diplomatisch genug war, kann ich nicht beurteilen. Es zeichnet sich schon ab, dass die Bemühungen der öffentlich engagierten Menschen in Sarata mit meiner Unterstützung wirken. Die graue Wolke über die Gottlieb-Veigel-Straße ist verweht worden. Über der Gemeinde Sarata mit ihren historischen Straßen scheint bislang fröhlich die Sonne und der blaue Himmel hängt voller Hoffnung.