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„… da wussten wir, das war nicht recht“

Brigitte Bornemann · 21. Juni 2023
Blumen für Erika Schaible-Fieß
Blumen für Erika Schaible-Fieß
Gespräche beim Mittagessen im eng besetzten Festsaal

Gespräche beim Mittagessen im eng besetzten Festsaal

Das dunkelste Kapitel in der Geschichte der Bessarabiendeutschen, so war das Thema des Kulturtags „Ansiedlung der Bessarabiendeutschen im eroberten Polen 1941–1945“ angekündigt. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass das Interesse so groß sein würde. Von 120 Anmeldungen konnten wir nur 90 zulassen, damit war der Festsaal im Heimathaus eng besetzt.

Pfarrerin Andrea Aippersbach legte in ihrer atemberaubenden Andacht (hier abgedruckt ab Seite 19) den Finger direkt in die Wunde. Scham und Schuld stecken oft dahinter, wenn über die Dinge nicht gesprochen werden kann. So auch die Zeit in Polen, die in manchen Familienerzählungen seltsam blass blieb, während die Flucht in deutlichen Bildern ausgemalt wurde. Die Kinder spüren das Verschweigen und fragen nicht weiter. Heute erst ist für uns Nachgeborene die Zeit gekommen, sich den Fragen zu stellen, die damals zu schwer waren, und nach Heilung zu suchen.

Wir hörten zwei Grußworte aus dem Kreis der Vertriebenenverbände. Kulturreferent Hans Vastag überbrachte den Gruß des BdV-Landesverbands Baden-Württemberg.

Hans-Werner Carlhoff schilderte die Ansiedlung in Polen aus der Sicht der Baltendeutschen.

Lebendiger Vortrag des 95-jährigen  Prof. Siegmund Ziebart

Lebendiger Vortrag des 95-jährigen Prof. Siegmund Ziebart

Einen historischen Überblick gab Professor Siegmund Ziebart, Jahrgang 1927, einer der letzten Zeitzeugen. Beginnend mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939, in dem Bessarabien der Sowjetunion zugesprochen wurde, über Umsiedlung, Lagerleben, Ansiedlung und Flucht schilderte er das Schicksal der Bessarabiendeutschen bis zu ihrer Heimholung nach Stuttgart in der Nachkriegszeit durch Karl Rüb.

Die Powerpoint-Vorträge von Siegmund Ziebart sind im Buchversand des Bessarabiendeutschen Vereins erhältlich.

Bei der Umsiedlung „Heim ins Reich“ im Oktober 1940 war den Bessarabiendeutschen versprochen worden, dass ihr zurückgelassener Besitz durch einen ebensolchen ersetzt würde. Doch als dann nach langer Wartezeit der ersehnte Bauernhof endlich zugeteilt wurde, lag er „im Osten“, in den neu errichteten Reichsgauen Wartheland und Westpreußen im eroberten Polen. Die polnischen Bauern waren erst kurz zuvor vertrieben worden. „Der Herd war noch warm“, so erzählt man von dem tief empfundenen Unrecht, in dem die bessarabiendeutschen Ansiedler sich einrichten mussten. Viele bemühten sich, entgegen der behördlichen Anordnung die polnischen Arbeiter menschlich zu behandeln.

Die Möglichkeit zum Widerstand war begrenzt, wer sich querstellte, kam an die Front oder gar ins KZ. Man stürzte sich in die Arbeit und machte die oft heruntergekommene Landwirtschaft wieder flott.

Doch es gab auch die andere Seite, die von der Mission der Deutschen als „Herrenmenschen“ überzeugt war.

Heinz Fieß berichtete in seinem Vortrag über die SS-Ansiedlungsstäbe, in denen auch Bessarabiendeutsche an der Vertreibung der polnischen Bauern aktiv mitwirkten. Das geeignete Personal fand sich in der von der NS-Ideologie geprägten „Erneuerungsbewegung“, die in den 1930er Jahren die politische Vertretung der Bessarabiendeutschen stellte und die Jugend begeisterte. Hierüber wurde später in den Familien nicht viel erzählt.
Der Vortrag von Heinz Fieß wird im Jahrbuch 2024 veröffentlicht.

Nach der Mittagspause wurde Heinz Fieß mit der Goldenen Ehrennadel des Bessarabiendeutschen Vereins ausgezeichnet, hierüber wird noch berichtet werden.

Der Büchertisch im Nebenraum bot etwas Luft

Der Büchertisch im Nebenraum bot etwas Luft

Dann erlebten wir eine Uraufführung. Dr. Günter Koch, Privatdozent an der Universität Passau und stellvertretender Leiter der Historischen Kommission, präsentierte seinen Videofilm „Die Ansiedlung der Bessarabiendeutschen in Polen 1941-1944. Ein Zeitzeugenprojekt.“ In Videointerviews erzählen fünf deutsche und ein polnischer Zeitzeuge von der Ansiedlungszeit und geben einen sehr lebendigen Eindruck von ihren Erlebnissen als Kinder und von den Erzählungen ihrer Eltern.

Damit kam ein bereits 2015 konzipiertes Projekt der Historischen Kommission zu einem vorläufigen Abschluss.

Das Programm klang aus mit dem Vortrag von Erika Schaible-Fieß, die von der Polenreise des Ehepaars Fieß im Jahr 2012 berichtete und aus ihrem Erinnerungsbuch „In den Wirren der Zeit“ einige Abschnitte las. Das Buch ist im Buchversand des Bessarabiendeutschen Vereins erhältlich.

Eine Reise nach Polen zu den ehemaligen Ansiedlungsorten ist ein guter Weg, die Erinnerung aufzufrischen und die Versöhnung mit den Nachfahren der damals Unterdrückten zu suchen. Beim Kulturtag wurden gleich zwei Angebote für die Organisation von Gruppenreisen vorgestellt: der Deutschlehrer und Reiseleiter Adam Malinski aus Posen und die Kelm-Reisen. Kontakte werden gerne von der Geschäftsstelle Bitte Javascript aktivieren! vermittelt.

Mit Gesprächen an der Kaffeetafel ging ein ereignisreicher, nachdenklich machender Tag zuende.