Multi-Kulti-Friedensfest
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Pia Schlechter
Der Kulturtag am 27. März war geplant als „Bergfest“ der Sonderausstellung „Multiethnisches Leben in Bessarabien und der Dobrudscha“, das mit einem Multikulti-Fest begangen werden sollte. Doch der Angriff auf die Ukraine am 24. Februar warf einen Schatten auf diese Pläne - kann man im Krieg ein Fest feiern? „Jetzt gerade“, diese Antwort kam spontan, mit der Idee, ein Fest für den Frieden auszurichten. Mit leicht abgewandeltem Titel wurde eingeladen zum Multi-Kulti-Friedensfest.
„multi-kulti-tolerant“
Auf dem Wochenmarkt in Tarutino in den 30er Jahren war die Stimmung nach Aussage von Zeitzeugen „multi-kulti-tolerant“. Die Kinder aller Völker tobten miteinander, naschten von den ausgelegten Früchten, lernten die Sprachen der anderen und neckten einander – auch das gehörte dazu. Ein Bild des Friedens.
In der multiethnischen Siedlergesellschaft Bessarabiens waren die Deutschen eine Minderheit. Sie lebten gutnachbarlich mit den anderen Völkern zusammen: Russen, Moldowaner, Bulgaren, Juden, Gagausen, Roma, Griechen, Tataren u.v.m. Dann kam der Nationalsozialismus mit seinem rassistischen Weltbild. „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ – das gefiel auch den Deutschen in Bessarabien. Aber das war nicht immer so. Die Deutschen in Bessarabien bewahrten ihr Eigenes, aber sie ließen sich auch von ihrer Umwelt inspirieren. Pfeffersoß und Borschtsch, Placht und Pudelkapp – das typisch Bessarabische, an dem man sie nach dem Krieg erkennen konnte, haben die Bessarabiendeutschen von den anderen Völkern ihrer Heimat übernommen. Am Kulturtag des Bessarabiendeutschen Vereins laden wir ein, sich an den historischen Ort Bessarabien zu erinnern, an dem viele Völker in friedlicher Toleranz miteinander lebten, sich mit Respekt begegneten und voneinander lernten. Diese Einladung wurde gerne angenommen. Beim Kulturtag war der Festsaal im Heimathaus mit knapp 70 Gästen wieder voll besetzt.
Zum Krieg in der Ukraine
In ihrer Einführung begrüßte Bundesvorsitzende Brigitte Bornemann besonders die Gäste aus Bessarabien, die als Flüchtlinge bei uns Schutz suchen, und versicherte sie unserer Solidarität. Als Raumschmuck war eine große ukrainische Flagge mit der Friedenstaube projiziert. Zunächst führte sie aus, wieviel die Deutschen in Bessarabien den anderen Völkern abgeschaut und in ihre Kultur aufgenommen haben. „Damals muss Frieden gewesen sein,“ war ihre Schlussfolgerung. „Nur im Frieden mag man von den anderen etwas annehmen. Das ist mir klar geworden, als ich hörte, dass der Russische Borschtsch, der in unserem Programm steht, Anstoß erregt hat. Putins Krieg macht alles Russische für viele von uns ungenießbar. Der russische Vodka wird aus den Regalen geräumt. Ich kann aber versichern, dass der Borschtsch, den wir heute essen, ein hiesiger ist, von Christina Till gekocht.“ Sie verglich die Schuld der Russen im Ukraine-Krieg mit der Schuld der Deutschen im Zweiten Weltkrieg und warb dafür, weiterhin das Menschliche auch in den Russen zu sehen. Sie bat um gute Aufnahme für den russlanddeutschen Chor „Heimatmelodie“, der für den Nachmittag angekündigt war.
Andacht
Pfarrerin Florentine Wolter, aus einer multiethnischen Familie stammend, führte anhand des Disputs Jesu mit der Kanaaniterin aus, dass die Einbeziehung anderer ethnischer Gruppen in die Gemeinschaft eine der großen Leistungen des Christentums war, und wie viel Umdenken und Beziehungsarbeit damit verbunden ist. Anschließend sprach sie ein Friedensgebet und sang ein Lied mit uns.
Grußworte
Als hoher Gast beehrte uns der Generalkonsul der Republik Moldau in Frankfurt, Herr Mihail Capatina. In seinem Grußwort sprach er über den Status der Republik Moldau als EU-Beitrittskandidat, über Arbeitsmigration der moldauischen Bürger und über die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der benachbarten Ukraine. Er gab seiner Hoffnung auf baldigen Frieden Ausdruck.
Die Kulturreferentin für Bessarabien bei der BKM Dr. Heinke Fabritius sprach über kulturelle Annäherung der Völker in Europa am Beispiel einer moldauischen Filmemacherin.
Der Leiter des Stuttgarter Stadtteilmuseums MUSE-O, Ulrich Gohl, begrüßte uns als Nachbarn im Stuttgarter Osten. Denn auch die Integration des Heimathauses in das regionale Kulturangebot wollten wir mit diesem Kulturtag voranbringen.
Besonders beeindruckend war für alle Teilnehmer das Grußwort von Simon Nowotni, Leiter der Bessarabienhilfe des Bessarabiendeutschen Vereins und Initiator des Hilfsprojekts „Ermstal hilft“, der mit breiter Unterstützung des gesamten Landkreises die humanitäre Hilfe für unsere Heimatgemeinden in Bessarabien organisiert. Auf dem Rückweg der Hilfstransporte nehmen sie Flüchtlinge mit, und auf diesem Weg waren auch einige unserer Freunde aus den Jugendaustauschprojekten der vergangenen Jahre ins Ermstal gekommen. Die Dozentinnen Elena Menshikova und Liudmyla Luzanova sowie die Redakteurin Svetlana Iskanderova waren mit Simon Nowotni zu unserem Kulturtag gekommen und sprachen von ihren Erfahrungen. Sie waren zuversichtlich, dass sie hier in Deutschland mehr für ihr Land tun können, als wenn sie unter Beschuss im Keller ausharren. Ein großer Applaus hieß sie willkommen.
Multiethnisches Leben – Gute Nachbarschaft ?!.
Museumskurator Olaf W. Schulze führte in seinem Vortrag das Thema der Sonderausstellung „Multiethnisches Leben in Bessarabien und der Dobrudscha“ aus. Er erläuterte die Neuerungen, die seit der Eröffnung als Werkstattausstellung beim Kulturtag „Deutsche und Juden als Minderheiten in Bessarabien“ am 17.10.2021 hinzugekommen waren. Sein Fazit: Von „Bessarabischer Toleranz“ kann man seit den 1930er Jahren kaum mehr sprechen. Die nationalsozialistische Erneuerungsbewegung säte Zwietracht im kulturellen und politischen Leben Bessarabiens und nutzte besonders die entstehende wirtschaftliche Konkurrenz zwischen Deutschen und Juden für ihre Propaganda aus. Der Vortrag wird im Jahrbuch 2023 nachzulesen sein.
Multiethnische Inspirationen in der bessarabiendeutschen Kultur
Die kulturelle Vielfalt Bessarabiens war beim Kulturtag zu schmecken, zu tasten, zu hören und zu sehen. Zu Mittag gab es russischen Borschtsch und für die Vegetarier rumänischen Mamlig mit bulgarischer Pfeffersoß. Zum Kaffee gab es schwäbisches Süßbrot (Hefezopf) und Halva. Anstelle des angekündigten türkischen Halva aus Sesam hatte unsere kulturwissenschaftliche Projektmitarbeiterin Pia Schlechter ein bessarabisches Halva aus Sonnenblumenkernen zubereitet und auch gleich das Rezept ausgelegt.
Textilien waren ein wichtiger Bestandteil der bessarabiendeutschen Kultur. Brigitte Bornemann trug ein Zackel, ein schwarzes Dreiecktuch aus kostbarer Klöppelspitze, das die bessarabischen Frauen zum Kirchgang trugen. Claudia Schneider zeigte ihre rumänische Bluse, die sie in den 90er Jahren in der Dobrudscha auf dem Markt gekauft hatte, und verglich sie mit einem historischen Modell aus unserem Museumsbestand. Künftig wollen wir einen Museumsshop haben, in dem wir solche Dinge anbieten; wir suchen nach zugkräftigen Ideen.
Musikalisch wurden wir wieder von dem moldawischen Duo Alexander Dekhtiar Klarinette, und Arkady Ginzburgskiy, Akkordeon, begleitet, die Weltmusik spielten.
Nachmittagsprogramm
Am Nachmittag gab es Führungen durch die Sonderausstellung in kleinen Gruppen mit Olaf Schulze. Daneben waren verschiedene Attraktionen im Haus aufgebaut, die von den Besuchern gerne angenommen wurden.
Klöppeln – Die Sudetendeutsche Ilse von Freyburg lehrt die alte Handarbeit des Klöppelns. Ihre Kunst demonstrierte sie in der Ausstellung. Sie war begeistert über die vielen Zackel in unserem Bestand, denen sie eine hohe handwerkliche Qualität bescheinigte.
Seidenkokonstickerei – Die Seidenraupenzucht war in Bessarabien verbreitet. Aus den Kokons machten die Frauen kleine Kunstwerke. Unser Vorstandsmitglied Renate Kersting zeigte ein Zierkissen aus ihrer Familie, für das sie eine Museumspatenschaft übernommen hat.
Die Dauerausstellung wird im September wegen Umbau geschlossen. Hartmut Knopp bot noch einmal Führungen in der „alten“ Dauerausstellung an.
In der Bücherstube, betreut von Beate Lutz-Kinkel, konnte man Bücher aus dem Buchversand des Bessarabiendeutschen Vereins ansehen und direkt mitnehmen.
Im Archiv zeigte Sigrid Standke die interessantesten Dokumente aus der bessarabiendeutschen Geschichte.
Eine Videostation hatte Pia Schlechter aufgebaut. Hier konnten Besucher ihre Eindrücke vom Museumsbesuch festhalten. Fazit war, dass an dem quirligen Nachmittag die nötige Konzentration nicht gegeben war. Die Besucher erzählten gerne, aber niemand sprach in die Kamera. Unser Konzept, Besuchereindrücke zu sammeln, werden wir noch schärfen.
Zum Abschluss gab es noch das Plachtenwickeln. Auf alten Zeichnungen sehen wir, wie Mütter und auch Großväter das Kind im Tuch tragen und dabei die Hände frei haben. Doch wie bekommt man das hin? Unter den Anwesenden war Erika Isert, die es wusste und es unseren Probandinnen Pia Schlechter und Claudia Schneider zeigen konnte. So wird es nun für die Nachwelt festgehalten werden.
Am Ende eines ereignisreichen Tages gingen alle müde und zufrieden nach Hause. Den Besuchern hat es sehr gut gefallen.