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Kulturtag „Deutsche und Juden als Minderheiten in Bessarabien“ am 17. Oktober 2021

Brigitte Bornemann · 15. Dezember 2021
Duo mit Klarinette und Akkordeon
Duo mit Klarinette und Akkordeon
Unser Kulturtag ist Teil des Festjahres

Unser Kulturtag ist Teil des Festjahres

Ungewohnte Klänge begrüßten die Gäste im Heimathaus der Bessarabiendeutschen zum Kulturtag „Deutsche und Juden in Bessarabien“. Zwei moldawische Musiker, Alexander Dekhtiar an der Klarinette und Arkady Ginzburgskiy am Akkordeon, verbreiteten mit Klezmermusik eine fröhliche Stimmung. „So ungefähr muss es geklungen haben, wenn jüdische Musiker in Bessarabien bei deutschen Hochzeiten aufspielten,“ sagte Bundesvorsitzende Brigitte Bornemann in ihrer Begrüßungsansprache.

„Deutsche und Juden hatten in Bessarabien eigentlich ein gutes Verhältnis“ – diese Aussage stand als Motto über dem Festtag. Wir wollten dem Guten nachspüren, ohne das schreckliche Ende auszuklammern, die nahezu vollständige Auslöschung der bessarabischen Juden durch den Holocaust. Mit Rabbi Dr. Lengyel und Pastor Baumann hatten wir die große Ehre, zwei Vertreter des jüdisch-christlichen Dialogs bei uns zu haben, die sich für die Versöhnung von Deutschen und Juden nach dem Holocaust einsetzten. Daran anknüpfend sollte auch dieser Kulturtag zur Versöhnung und Wiederannäherung der früheren Nachbarn bzw. ihrer Nachfahren beitragen.

Das jüdische Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“

Im März 2020 erhielt das Heimatmuseum der Bessarabiendeutschen eine Einladung des Vereins „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V.“ in Köln. Vorgestellt wurde das Konzept eines jüdischen Festjahrs 2021, um das 1700-jährige Jubiläum der gemeinsamen deutsch-jüdischen Geschichte zu begehen. Die Präsenz der Juden in Mitteleuropa reicht zurück bis in die Spätantike, der älteste Beleg ist ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin vom 11. Dezember 321, das dem Rat der Stadt Köln erlaubte, jüdische Mitglieder in seine Reihen zu berufen. Unterstützt von der Bundesregierung, dem Bundestag und zahlreichen weiteren Institutionen, sollte das jüdische Festjahr gegen Antisemitismus und Judenhass appellieren. Es entstand ein Festkalender mit mehr als 2000 großen und kleinen kulturellen Events in Deutschland.

Nach eingehender Diskussion in der Historischen Kommission (s.u.) beschloss der Bessarabiendeutsche Verein, den Kulturtag 2021 dem jüdischen Festjahr zu widmen. Bei der Gestaltung des Programms merkten wir bald, wie wenig wir von den Juden wussten. So hatten wir den Termin des Kulturtags zunächst auf Samstag den 16. Oktober festgelegt. Erst die freundliche Absage von Rabbi Lengyel belehrte uns, dass wir am Schabbat nicht mit jüdischen Gästen rechnen durften. So schwenkten wir um auf Sonntag den 17. Oktober, was die anderen Mitwirkenden freundlicherweise mittrugen. Bei der kulturellen Ausgestaltung des Programms konnten wir auf die freundliche Beratung der jüdischen Gemeinde in Stuttgart zurückgreifen.

Andacht von Arnulf Baumann

Pastor i.R. Arnulf Baumann, Ehrenvorsitzender des Bessarabiendeutschen Vereins, ehemaliger Leiter der Historischen Kommission und ehemaliger Vorsitzender des Hilfskomitees, hatte es sich trotz seines hohen Alters nicht nehmen lassen, die beschwerliche Reise nach Stuttgart anzutreten, um selbst die Andacht zu halten. Für ihn, der sich Zeit seines Lebens für die Versöhnung von Juden und Christen eingesetzt hatte, war der heutige Festtag die Erfüllung eines lange gehegten Traums. Er sprach über den Bibelvers aus Mk 12, 28-32 (siehe Seite 7) „du sollst den Herrn deinen Gott lieben, und deinen Nächsten wie dich selbst“ und stellte ihn als die gemeinsame Basis der jüdischen wie der christlichen Religion vor. Die Begegnung im gegenseitigen Respekt und die Betonung der Gemeinsamkeiten, nicht der Unterschiede ist ihm eine Voraussetzung für die Überwindung der Entfremdung zwischen Christen und Juden, die in der Shoa ihren grausamen Tiefpunkt fand.

Grußworte

Nach der Einstimmung und Andacht war es Zeit für die Grußworte.

Dr. Heinke Fabritius, Kulturreferentin der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, legte ihr vorbereitetes Konzept für ein Grußwort beiseite und zeigte sich bewegt von der lebendigen Musik und warmherzigen Atmosphäre im Raum. Diese Haltung empfinde sie als vorbildlich für die Pflege des kulturellen Erbes der Deutschen aus Osteuropa.

Rainer Bobon, stellvertretender Leiter des Hauses der Heimat Baden-Württemberg, würdigte den fruchtbaren multiethnischen Ansatz in der Erforschung der Kultur der Deutschen im östlichen Europa.

Susanne Jakubowski vom Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Baden-Württemberg bedankte sich für die Einladung und für die Gelegenheit zu einer neuen Begegnung.

Rabbi Dr. Gabor Lengyel über Gedenkkultur

Rabbi Dr. Gabor Lengyel

Rabbi Dr. Gabor Lengyel

Dr. Gabor Lengyel ist Seniorrabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hannover, engagiert sich in der Rabbinerausbildung und im jüdisch-christlichen Dialog. Dort traf er vor langen Jahren auf Pastor Arnulf Baumann, der ihn gegen seine anfängliche Skepsis dafür gewann, zu unserem Kulturtag nach Stuttgart zu kommen.

Zunächst erzählte Dr. Lengyel von seinem bewegten Leben als Holocaust-Überlebender. Als Kind jüdischer Eltern im Jahr 1941 in Budapest geboren, überlebte er mit seinem drei Jahre älteren Bruder und einer Tante in einem Versteck. Seine Mutter war bald nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht verschleppt worden. Auch sein Vater wurde verschleppt, überlebte aber und kehrte schwer gezeichnet nach Budapest zurück. Nach dem frühen Tod des Vaters im Jahr 1956 flüchtete der damals 15-Jährige alleine nach Wien, von wo aus er mit Hilfe des dortigen Oberrabbiners nach Israel auswandern konnte. Er machte eine Ausbildung zum Feinmechaniker und diente in der israelischen Armee. Zum Studium ging er in den 60er Jahren nach Deutschland, blieb und nahm nach langem Zögern die deutsche Staatsbürgerschaft an. Erst nach seiner Berufskarriere als Ingenieur und Manager ließ er sich zum Rabbiner ausbilden.

Die Gedenkkultur um den Holocaust trägt in der Wahrnehmung Gabor Lengyels auch bedenkliche Züge. Der Holocaust ist heute das am besten dokumentierte Menschheitsverbrechen. Er ist präsent in Gedenkstätten, Museen, Archiven, in Büchern, Fernsehserien und Videoerzeugnissen. Eine Gefahr für die Zukunft sieht Lengyel nicht im Vergessen, sondern in der Verflachung der Erinnerung. Das Gedenken sei meist politisch inszeniert und werde vom Publikum eher erduldet als mitgetragen. Einen hohen Wert sieht er dagegen im Nachdenken und forschenden Lernen. Das Vergessen, obschon mit dem zeitlichen Abstand unvermeidlich, werde in der Bibel nicht empfohlen. Die jüdische Tradition lege großen Wert auf das Erinnern.

Zum Abschluss erzählte er, wie es sich für einen Juden gehört, einen Witz:
Gott der Herr war entgegen seines Vorsatzes doch wieder erbost gegen die Menschen und beschloss, binnen drei Tagen eine neue Sintflut zu schicken. Seine Vertreter auf Erden hörten dies und traten vor ihr Volk. Der katholische Pfarrer sagte: Wir müssen Buße tun und in Sack und Asche gehen. Der evangelische Pastor sagte: Wir müssen Choräle singen und Gott loben. Der jüdische Rabbi sagte: Leute, wir haben drei Tage, um das Leben unter Wasser zu lernen.

Das Publikum applaudierte. Brigitte Bornemann zog eine Parallele zwischen der jüdischen und der bessarabiendeutschen Haltung gegen Schicksalsschläge.

Wissenschaftlicher Vortrag von Dr. Mariana Hausleitner

Mariana Hausleitner

Mariana Hausleitner

Die rumäniendeutsche Historikerin Dr. Mariana Hausleitner hat bereits mehrere Studien über Deutsche und Juden in Osteuropa zur Zeit des Nationalsozialismus vorgelegt. Heute trug sie in kompakter Form die historischen Fakten über das Verhältnis von Deutschen und Juden in Bessarabien 1814-1940 vor. Darunter waren einige zuvor wenig bekannte Aspekte. Eine Gemeinsamkeit von Deutschen und Juden war die Schulbildung, die sie von den anderen Ethnien in Bessarabien unterschied und ihnen Vorteile in der wirtschaftlichen Entwicklung verschaffte. In der frühen rumänischen Zeit verteidigten sich Juden und Deutsche in konzertierter Form gegen den rumänischen Zentralismus und kämpften für ihre verfassungsmäßigen Rechte als Minderheiten. Mit dem erstarkenden rumänischen Antisemitismus gerieten die Juden zusehends in Bedrängnis, viele schlossen sich zionistischen und kommunistischen Bewegungen an. Auch unter den Deutschen wurden in den vom Reich finanzierten Zeitungen antisemitische Töne laut. Den Einmarsch der Sowjetunion im Sommer 1940 begrüßten die Juden zunächst, jedoch wurden bald ihre politischen Führer deportiert. Als dann nach der Umsiedlung der Bessarabiendeutschen die deutsche Wehrmacht im Jahr 1941 einmarschierte, fielen die bessarabischen Juden führungslos fast sämtlich dem Holocaust zum Opfer. Nur wenige, die sich noch in den 30er Jahren nach Palästina gerettet hatten, überlebten.

Mittagessen

Hahnerle mit Kartoffel-Kraut-Salat und Pfeffersoß

Hahnerle mit Kartoffel-Kraut-Salat und Pfeffersoß

Auch das Mittagessen war ein Anlass, jüdische Traditionen kennenzulernen. Die Regeln koscheren Essens erwiesen sich als komplex, aber schon die Anfangsgründe halfen weiter. Aus dem Internet lernten wir, dass wir auf Schweinefleisch verzichten und Milchiges und Fleischiges nicht mischen sollten. Christina Till stellte aus dem reichen Fundus des bessarabischen Kochbuches ein interkonfessionelles Menü zusammen: Hahnerle mit Kartoffel-Kraut-Salat, Pfeffersoß und Gurkensalat, wobei es den Gurkensalat in zwei Varianten gab, mit und ohne saure Sahne. Es schmeckte allen vorzüglich und ergab einen großen Applaus für Christina Till und ihr Team.

Grußwort Raimund Haser

Raimund Haser

Raimund Haser

Nach dem Mittagessen wurde ein neu eingetroffener Gast aus der Politik vorgestellt: MdL Raimund Haser, Vertriebenensprecher der CDU-Fraktion, Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen und Vorsitzender des Vereins Haus der Donauschwaben in Sindelfingen. Brigitte Bornemann hob das besondere Verdienst von Raimund Haser für das Museumsprojekt des Bessarabiendeutschen Vereins hervor, das im Coronajahr 2020 zwischen den politischen Instanzen steckengeblieben war und von ihm mit seiner Initiative und Fürsprache wieder flott gemacht wurde.

Raimund Haser sprach zunächst von seinem familiären Hintergrund als Kind donauschwäbischer Eltern, deren Vorfahren 175 Jahre lang nahe Belgrad gelebt hatten, nicht weit vom Umverteilungslager Semlin, wo im Jahr 1940 bessarabiendeutsche Umsiedler von Donauschwaben bewirtet wurden, bevor diese bei Kriegsende selber fliehen mussten. Die Erfahrungen seiner Eltern als Flüchtlinge im Nachkriegsdeutschland bewogen Raimund Haser, geboren 1975 im Allgäu, sich in der Vertriebenenarbeit zu engagieren. Die Vertriebenen sieht er als die besten Fürsprecher für die Wahrung des Friedens in der Welt. Vertreibungen sollten, so Raimund Haser, genauso geächtet werden wie der Krieg. Die Erfahrungen der deutschen Siedler im Osten, besonders aus den multiethnischen Ländern des Habsburgerreichs und dem südrussischen Bessarabien, schätzt er auch im Hinblick auf ein geeintes Europa. Dem Museumsprojekt des Bessarabiendeutschen Vereins und der multiethnischen Sonderausstellung sprach er seine Anerkennung aus.

Pilotvorhaben erste Sonderausstellung

Ausschnitt aus dem Videointerview mit Kunigunde Jauch

Ausschnitt aus dem Videointerview mit Kunigunde Jauch

Hauptprogrammpunkt des Nachmittags war die Eröffnung der Sonderausstellung. Zur Einführung stellte Brigitte Bornemann das Gesamtkonzept der Museumsneugestaltung vor. Von dem ersten Konzeptworkshop im Herbst 2018 über die Finanzierungszusagen im April 2021 bis zur geplanten Eröffnung der neuen Dauerausstellung im Herbst 2023 wird das umfassend angelegte Modernisierungsvorhaben sich über insgesamt fünf Jahre erstrecken.

Dieser QR-Code führt auf  das Videointerview mit  Kunigunde Jauch. Er ist  auch in der Ausstellung zu  sehen.

Dieser QR-Code führt auf das Videointerview mit Kunigunde Jauch. Er ist auch in der Ausstellung zu sehen.

Der Raum der Sonderausstellung im Untergeschoss war zunächst noch mit der Dobrudscha-Sammlung besetzt. Nach der Fusion der Landsmannschaft der Dobrudschadeutschen mit dem Bessarabiendeutschen Verein war die Sammlung im Jahr 2016 ins Heimathaus nach Stuttgart gekommen (siehe MB 05-2017). Im Sommer 2021 wurden die Objekte der Dobrudscha-Sammlung digitalisiert und werden bald als virtuelle Ausstellung zu sehen sein. Die Dobrudscha bekommt dann einen Platz in der neuen Dauerausstellung. Die erste Sonderausstellung ist ein Pilotvorhaben zur Erprobung der neuen Gestaltungsansätze. Als Beispiel wurde ein Videointerview mit der Museumsmitarbeiterin Kunigunde Jauch gezeigt, die ein von ihrer Familie gestiftetes Kaffeeservice vorstellt. In Videointerviews wird das tradierte Wissen der Museumsführer aufgezeichnet und steht in der Ausstellung zur Verfügung. Das Verfahren wurde im Sommer 2021 erprobt und wird nach und nach auf die wichtigsten Exponate angewendet.

Multiethnisches Leben in Bessarabien und der Dobrudscha

Das Thema der Sonderausstellung „Multiethnisches Leben“ ist ein Ergebnis der Fachdiskussion in der Historischen Kommission des Bessarabiendeutschen Vereins. Die Einladung zum jüdischen Festjahr im Frühjahr 2020 hatte uns inspiriert, uns mit einem Beitrag über das Zusammenleben von Deutschen und Juden in Bessarabien zu beteiligen. In der Diskussion der historischen Kernaussage wurde bald deutlich, dass die multiethnische Gesellschaft Bessarabiens ein bestimmender Faktor war. Denn in diesem Kontext standen Deutsche und Juden als Minderheiten gleichrangig nebeneinander, so dass sich ihre Beziehung auf besondere Weise entwickeln konnte. Die Umsetzung des Themas hatten wir uns anfangs als Ausstellungsstand vorgestellt, als Beitrag zur Museumsneugestaltung; diese jedoch kam zu der Zeit nicht voran. Wir entschlossen uns, zum jüdischen Festjahr einen Kulturtag mit dem Titel „Deutsche und Juden als Minderheiten in Bessarabien“ anzumelden. Wenig später ergab sich dann die Aussicht, eine Sonderausstellung einzurichten; diese erhielt den weiter gefassten Titel „Multiethnisches Leben in Bessarabien und der Dobrudscha“. Die Juden in Bessarabien sind in der Ausstellung mit einer großen Abteilung vertreten.

Eröffnung als Werkstattausstellung

Den Werkstattcharakter der Ausstellung erläuterten Brigitte Bornemann und Olaf Schulze in mehreren Aspekten. Ein äußerer Faktor waren pandemiebedingte Lieferengpässe, die eine vollständige Einrichtung der Sonderausstellung bis zum avisierten Eröffnungstermin verhindert hatten. Aus der Not machten wir eine Tugend und beschlossen, die Ausstellung als „work in progress“ zu zeigen. Zur Eröffnung hatten wir das deutsch-jüdische Thema präsentationsfertig, während die anderen Ethnien und auch die audiovisuellen Beiträge nur punktuell vertreten waren. Bis zum Frühjahr 2022 wollten wir das multiethnische Thema vervollständigen und die Ausstellung noch einmal präsentieren. Hieraus entstand das Konzept für das Multikulti-Fest am 27.03.2022.

Zum Besuch der Ausstellung teilte sich das Publikum in zwei Gruppen. Die eine Hälfe wurde von Olaf Schulze durch die Ausstellung geführt, während die andere Hälfte im Festsaal die Filme ansah, die auch in der Ausstellung abgerufen werden können. Wir hatten zunächst zwei Filme: Ein Fernsehfilm von TV Moldova über den Holocaust in Chisinau war für uns mit deutschen Untertiteln ausgestattet worden.

Von dem Kinofilm „Der zerbrochene Klang. Roma und Juden auf Musikreise in Bessarabien“, der als DVD erhältlich ist, zeigten wir einen Trailer.

Belege deutsch-jüdischer Freundschaft in Bessarabien

Als methodische Herausforderung des jüdischen und noch mehr des multiethnischen Themas stellte Olaf Schulze dar, dass wir in unserem Museum nur wenige Exponate haben, die über die anderen Ethnien in Bessarabien Auskunft geben können. Am Beispiel einer Halva-Dose aus den 1920er Jahren von einem jüdischen Fabrikanten in Chisinau demonstrierte er die Vielzahl an Informationen und Geschichten, die aus einem dinglichen Objekt abgeleitet werden können. Unser Material sind überwiegend historische Fotoaufnahmen sowie Beobachtungen aus der Erinnerungsliteratur, beschränkt auf den Blick der Deutschen auf die anderen Völker. Erst durch die Initiative von Uwe Quellmann (siehe MB 06-2021) erhielten wir Kenntnis von der israelisch-bessarabischen Erinnerungsliteratur, die auch Eindrücke der Juden von den Deutschen enthält.

Halvadose – Halva mit Schokolade von der  jüdischen Firma Rosenberg in Chisinau

Halvadose – Halva mit Schokolade von der jüdischen Firma Rosenberg in Chisinau

Auch unsere These von dem gut-nachbarlichen Verhältnis zwischen Deutschen und Juden in Bessarabien war anfangs noch recht gewagt. Aus der historischen Analyse hatten wir abgeleitet, dass es neben reinen Geschäftsbeziehungen und Konkurrenz auch deutsch-jüdische Freundschaften gegeben haben muss. Doch hatten wir anfangs nicht mehr als einen mageren Beleg: das Foto einer Geburtstagsfeier im Krankenhaus Arzis im Jahr 1931 mit deutschen, jüdischen und russischen Gästen. Nach der Bekanntgabe des Themas „Deutsche und Juden in Bessarabien“ im Mitteilungsblatt im Sommer 2020 kam dann eine Fülle an Zuschriften, die über ein positives Verhältnis berichteten. Der ersehnte Beleg kam im September 2021 als Sachspende für das Museum: Ein Stickbild, das von der engen Freundschaft zwischen einer deutschen und einer jüdischen jungen Frau in Alt-Posttal zeugte (siehe MB 12-2021 Seite 21f).

Brosche der Arziser Jüdin Bronja Schliegol

Brosche der Arziser Jüdin Bronja Schliegol

Einen weiteren Beleg deutsch-jüdischer Freundschaft hatte Gertrud Effinger mitgebracht: Die Brosche der Arziser Jüdin Bronja Schliegol, die diese ihrem Vater bei seiner Bessarabienreise im Jahr 1983 als Freundschaftsgeschenk für seine Frau mitgab (siehe MB 11-2021 Seite 15). Frau Effinger hält das Schmuckstück in Ehrenund kann sich noch nicht entschließen, es dem Museum zu überlassen. Aber ansehen und fotografieren durften wir es.

Jiddische Poesie von Woldemar Mammel

Woldemar Mammel

Woldemar Mammel

Zwischen den Sachvorträgen erfreute uns Woldemar Mammel mit Gedichten und Kurzgeschichten in jiddischer Sprache (siehe MB 12-2021 Seite 17 ff). Auch Gertrud Effinger hatte einen jiddischen Abzählreim mitgebracht. Beide sind Bessarabiendeutsche, die das Jiddische noch „von zu Hause“ im Ohr haben. Seine Leidenschaft für die jiddische Sprache hatte Woldemar Mammel von seiner Großmutter aus Tarutino, die gerne jiddische Redewendungen zum Besten gab. In der Vorbesprechung fragte ich ihn, ob er auch jüdische Witze über die Deutschen gehört hatte, er wusste einige. Am meisten beeindruckte mich die Redewendung „Ah, a klig daatsch“ – „sieh an, ein kluger Deutscher“. Das sagte seine Großmutter immer, wenn die Kinder einmal etwas gut gemacht hatten, mit dem Unterton „blindes Huhn findet auch einmal ein Korn“. Die Juden in Bessarabien, erklärte Woldemar Mammel, fühlten sich den Deutschen intellektuell überlegen.

Lesung von Milana Gilitschenski

Zum Abschluss des ereignisreichen Tages durften wir noch die Stuttgarter Ärztin und Schriftstellerin Milana Gilitschenski begrüßen, die als Kind jüdischer Eltern in Moldawien aufgewachsen ist. Sie las einige Passagen aus ihrem unveröffentlichten Roman „Nach dem Tauwetter“, darin erzählt sie die Geschichte der moldawischen Juden, vor allem aus den jüdischen landwirtschaftlichen Kolonien Nordbessabiens. Wir wünschen ihr sehr, dass sie
bald einen Verlag für ihr spannendes Buch findet. Ein Ausschnitt ist im Internet zu hören: Buchausschnitt

Fazit

Großes Lob hörten wir von den Besuchern des Kulturtags über Deutsche und Juden in Bessarabien. Der abwechslungsreiche und anspruchsvolle Tag hatte allen gut gefallen. Besonders die Klezmer-Musik, die in der Mittagspause sogar zu einem Tänzchen animierte, wurde lobend erwähnt. Schade nur, dass bei dem vollen Programm der Gedankenaustausch etwas zu kurz kam. Die Begegnung mit den jüdischen Gästen war eine gute Erfahrung, die bald einmal wiederholt werden sollte. Jemand sprach von einem Bessarabientag in der jüdischen Gemeinde – wenn der kommt, wären wir gerne dabei!