Ute Schmidt 80 Jahre
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privat
Ute Schmidt wurde am 1. Oktober 1943 in Schrimm/Srem im Bezirk Posen/Poznan geboren, also im von den Deutschen besetzten Polen, wohin die Familie wie viele andere Bessarabiendeutsche 1940 umgesiedelt worden war. Ihre Mutter stammte aus Gnadental, ihr Vater aus Teplitz. 1911 gründete David Koth, ihr Großvater mütterlicherseits, zusammen mit anderen Bauern die Tochterkolonie Friedrichsdorf/Nowonikolajewka im Süden Bessarabiens, nicht weit vom Sasik Liman und von der Küste des Schwarzen Meeres. Dort entwickelte der Großvater bald eine erfolgreiche Bauernwirtschaft, betrieb eine Kornmühle mit einem Juden als Kompagnon. Er züchtete Karakulschafe und Pferde. Entsprechend den fortschrittlichen Einstellungen dieser Gründergeneration sollten auch die Töchter eine höhere Ausbildung erhalten. Daher ging Utes Mutter zum Lehrerstudium nach Bukarest und wurde eine beliebte Biologie- und Sportlehrerin am Mädchengymnasium in Tarutino. In Bukarest hatte sie auch ihren Mann Wilhelm Konrad Schmidt kennengelernt, der dort Deutsch und „Staatsbürgerkunde“ studierte und sich für die damals neue Soziologie interessierte. Er wurde Lehrer am Knabengymnasium in Tarutino, wo er u.a. eine Theatergruppe gründete, wovon manche seiner ehemaligen Schüler noch viel später schwärmten.
Nach der Umsiedlung nach Polen unterrichtete der Vater am Gymnasium in Schrimm, während seine Frau die Tochter Ute und ihren älteren Bruder großzog. Als der Krieg sich gewendet hatte und die Rote Armee 1944 nach Westen vorrückte und letzte Reserven mobilisiert wurden, wurde Utes Vater noch eingezogen und kam beim ersten Einsatz in Galizien ums Leben.
Die Mutter musste, wie unzählige andere, nach Westen fliehen und kam nach einer abenteuerlichen Odyssee nach Murrhardt, nicht weit von Stuttgart. Ute wuchs also als Halbwaise auf in einer schwäbischen Kleinstadt, deren selbstgewisses Milieu die Flüchtlinge spüren ließ, dass sie als „bessere Araber“ nicht von vornherein dazugehörten. Das beschreibt der lesenswerte Text „Siebenknie“, den Utes Bruder Götz Schmidt 2016 als Buch veröffentlichte. Die Mutter Herta Schmidt hielt ihre eigene Familie und andere versprengte Teile ihrer Verwandtschaft als Lehrerin über Wasser. Utes Kindheit bis ins Erwachsenenalter war also stark geprägt von Verlust-, Flucht- und Fremdheitserfahrungen, sicher ein Grund dafür, dass sie nach dem Abitur in Backnang das „Ländle“ verließ, um ab 1964 in München zu studieren, zunächst Geschichte und Kunstgeschichte, dann Soziologie und Politische Wissenschaften. Dort schloss sie sich der Studentenbewegung, dem Sozialistischen Deutschen Studentenverband (SDS) an, der sich die Bekämpfung der hierarchischen Strukturen an der Universität und die Aufarbeitung der Nazivergangenheit zum Ziel gesetzt hatte. Nach einem Jahr ging sie nach Berlin, damals eines der Zentren der Studentenbewegung. Dort setzte sie ihr Studium an der Freien Universität fort, schloss 1971 als Diplom-Soziologin, 1982 mit Promotion zum Dr. phil. ab. Eine erste Publikation entstand 1971 zusammen mit Tilman Fichter unter dem Titel „Der erzwungene Kapitalismus“, die bei Wagenbach erschien und immerhin 40.000 mal verkauft wurde. Es hatte die amerikanische Besatzungspolitik in der Nachkriegszeit und ihre Strategien zur Umerziehung der Deutschen zur Demokratie zum Thema, ein Forschungsgegenstand, den sie zehn Jahre später in den Archiven in Washington vertiefen konnte.
Von 1974 bis 1989 war sie in Forschung und Lehre an der Freien Universität beschäftigt. Ihr Forschungsschwerpunkt in der Parteienforschung war damals der politische Katholizismus und die Entwicklung der CDU in der Nachkriegszeit. Das war die beste Voraussetzung, um nach der Wende die zwiespältige Rolle der CDU in der DDR anhand von zahlreichen Interviews mit den damaligen Protagonisten zu untersuchen. Nach der Habilitation und einer dreijährigen Lehrtätigkeit an der Universität Hamburg wechselte sie an das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden und beschäftigte sich mit der politischen Repression sowohl in der ehemaligen DDR als auch im sowjetischen Imperium. Seit 2004 war sie Mitarbeiterin im „Forschungsverbund SEDStaat“ an der Freien Universität Berlin, ein Institut, das auch die Entwicklungen im ehemaligen Ostblock im Auge hat.
Dass Ute, parallel zu ihren universitären Aktivitäten, bald wachsendes Interesse für ihre Heimat Bessarabien entwickelte, ist zu einem beträchtlichen Teil ihrer Mutter Herta geschuldet, die ehrenamtlich im Haus der Bessarabiendeutschen mitarbeitete. Museumsleiter Christian Fieß hatte die vielversprechende angehende Wissenschaftlerin immer wieder gebeten, die Geschichte der Bessarabiendeutschen zu schreiben. Mutter Herta nahm sie zum ersten Mal 1987, noch zu Sowjetzeiten, nach Bessarabien mit. Darauf folgten zahlreiche Besuche in die alte Heimat und in viele osteuropäische Staaten, woraus sich mannigfache Freundschaften und Kontakte ergaben. Das erste Ergebnis daraus war 2003 das umfängliche Buch „Die Deutschen aus Bessarabien 1814 bis heute“, das im Böhlau Verlag erschien. Dieses Buch ist kostbar, weil es zahlreiche Interviews mit damals noch lebenden Zeitzeugen enthält. Diese Berichte zeigen außerdem die Begabung der Soziologin Ute Schmidt, mit unvoreingenommener Neugier und ohne akademische Prätention auf unterschiedlichste Menschen zuzugehen und sie zum Reden zu bringen.
2008 trat das „Kulturforum östliches Europa“ an Ute heran mit dem Vorschlag, als Pilotprojekt einer neuen Reihe über die deutschen Minderheiten in Osteuropa eine umfassende, durch Bildmaterial ergänzte Darstellung der deutschen Siedlungen in Bessarabien zu schreiben. Das Buch entwickelte sich zum Bestseller. Inzwischen liegt die dritte aktualisierte Auflage vor, und es gibt eine englische, eine rumänische und eine russische Fassung. Die vielfältigen historischen Illustrationen sind zum großen Teil dem Bildarchiv des Heimatmuseums zu verdanken. Das Buch stellt nicht nur die Geschichte der deutschen Minderheit und der Region von 1814 bis heute dar, sondern behandelt auch quer dazu soziologische Fragestellungen, wie z.B. die Rolle von Kirche und Schule oder das Verhältnis zu den anderen Ethnien.
Als das Buch 2009 im Historischen Museum in Chisinau vorgestellt wurde, regte dessen Direktor Eugen Sava an, daraus eine Ausstellung für sein Museum zu gestalten. Die Ausstellung „Fromme und tüchtige Leute …“ wurde 2010 eröffnet und ist seitdem an allen wichtigen Orten der Region, aber auch in Rumänien und der Ukraine sowie in zahlreichen Städten in Deutschland und auch in den USA zu sehen gewesen. Und sie wird weiterhin angefragt und eingeladen. Auf Initiative des damaligen deutschen Botschafters in Moldova, Matthias Maier, finanzierte das Auswärtige Amt 2014 eine große Jubiläumsausstellung unter dem Titel „Deutsche Spuren in Moldau 1814 bis 2014“ im frisch renovierten, prächtigen Kunstmuseum von Chisinau, zu der die einheimischen Museen, aber auch das Heimatmuseum in Stuttgart Ausstellungsstücke zur Verfügung stellten. Zur Eröffnung kamen nicht nur die
westlichen Botschafter, sondern auch die „Außen“- und die „Kulturministerin“ der separatistischen, von Russland unterstützten Region Transnistrien. Die Ausstellung hatte sage und schreibe 10.000 Besucher, die damalige Außenministerin von Moldova sagte später im privaten Gespräch, es sei die wichtigste Ausstellung in der kurzen Geschichte der Republik Moldau gewesen.
Mit Hilfe der Kontakte zu den Universitäten in Odessa und Ismail konzipierte Ute Schmidt 2016 zusammen mit Günther Vossler ein Jugendaustauschprojekt unter dem Motto „Herkunft und Heimat“: Eine Gruppe Jugendlicher, Schüler und Studenten aus der dortigen Region, trafen sich mit einer entsprechenden Gruppe aus dem Gymnasium in Bad Urach, das zur Mitarbeit gewonnen wurde. Neben der Begegnung und gemeinsamen Unternehmungen hatten die Jugendlichen den Auftrag, Zeitzeugen nach ihren Erfahrungen mit Umsiedlung, Verschleppung und Heimatverlust zu befragen, zunächst Einheimische in Tarutino und später Bessarabiendeutsche in Stuttgart bzw. Bad Urach. Als Resumé sollten die Jugendlichen ihr eigenes Verhältnis zu Heimat und Herkunft reflektieren. Dieses erfolgreiche Austauschprojekt wird mit unterschiedlicher Ausrichtung bis heute fortgesetzt.
Auch im Vereinsleben der Bessarabiendeutschen brachte Ute Schmidt sich ein. Die Herbsttagung in Bad Sachsa begleitete sie seit dem Beginn 1994, hielt regelmäßig Referate in Bad Sachsa und bei den Norddeutschen Treffen in Möckern und veröffentlichte sie in den Jahrbüchern. In der Historischen Kommission engagiert sie sich seit der Gründung 2009 bis heute. Beim Bundestreffen im Juni 2022 wurde sie für ihr Lebenswerk mit der Goldenen Ehrennadel des Bessarabiendeutschen Vereins ausgezeichnet.
Wir wünschen Dir, liebe Ute, zu Deinem hohen Geburtstag alles Gute, vor allem Gesundheit und ein weiter so heiteres Gemüt. Genieße unsere Anerkennung, Freundschaft und Liebe und die wohlverdienten Früchte Deiner Arbeit.