Nachruf auf Horst Köhler
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Als am 1. Februar 2025 die Medien den Tod des Alt-Bundespräsidenten Horst Köhler meldeten, war alles wieder da: die Frage um das Geheimnis seines Geburtsortes, das historische Durcheinander um Lage, Herkunft und Wanderwege im Osten und Südosten Europas und natürlich die Falschmeldungen. So begleiteten die Heute-Nachrichten des ZDF ihren Nachruf auf Horst Köhler mit dem Hinweis, er sei „1943 im damaligen Polen“ geboren worden, obwohl ein Blick in einen einfachen Geschichtsatlas gezeigt hätte, dass es zu diesem Zeitpunkt kein „Polen“ gab, sondern nur ein „Generalgouvernement“, das mit dem nationalsozialistischen Deutschen Reich staatsrechtlich verbunden war.
Dieses Phänomen hatten wir schon einmal vor mehr als 20 Jahren bei der Nominierung Horst Köhlers zum Amt des Bundespräsidenten erlebt - nur in noch größerem Ausmaß. So reklamierten damals Siebenbürger Sachsen, Russlanddeutsche und Österreicher den künftigen Bundespräsidenten fälschlicherweise für sich, obwohl nur die Bessarabiendeutschen auf die Herkunft der Familie Köhler ein berechtigtes Anrecht hatten. Aus diesem Grund verfasste ich seinerzeit einen Essay mit dem Titel „Das Mysterium um die Herkunft des Kandidaten für das Bundespräsidentenamt Horst Köhler“, den die Kulturpolitische Korrespondenz in Bonn und die Frankfurter Allgemeine Zeitung sowie die Augsburger Allgemeine abdruckten.
Die Klarstellungen zur Herkunft von Horst Köhler wirbelten einigen Staub auf, erreichten jedoch den Kandidaten, der zu dieser Zeit in den USA weilte, nicht, denn in seinem Interviewband „Offen will ich sein – und notfalls unbequem“, erschienen bei Hoffmann und Campe in Hamburg 2004, wiederholte Horst Köhler Fehler zu seiner Herkunft, die er bereits dem SPIEGEL gegenüber gemacht hatte. Das legt den Schluss nahe, dass er bis zu diesem Zeitpunkt selbst nicht über die Irrungen und Wirrungen seiner Familie in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Bilde war.
Die Wende im Wissen um sein Herkunftsschicksal trat wohl erst ein, als er sich auf seiner Präsentationsreise in die Bundesländer befand und als Letztes sein Heimatland Baden-Württemberg besuchte und dabei in der Landeshauptstadt Stuttgart im „Haus der Geschichte“ mit einer Ausstellung und einem Dossier zur Herkunft der Familie Köhler aus Bessarabien konfrontiert wurde. Die baden-württembergische Landesregierung hatte Ingo Isert vom Heimatmuseum und Haus der Bessarabiendeutschen in Stuttgart beauftragt, diese „Überraschung“ für den Bundespräsidenten und seine Ehefrau zu gestalten und vorzubereiten. Horst Köhler zeigte sich tief ergriffen und berührt und versprach, seine Tochter, die Geschichte studierte, anzuhalten, sich intensiv mit der Familiengeschichte zu befassen. Ingo Isert erzählte, Horst Köhler sei den gesamten Tag über nicht über seine Begegnung mit Bessarabien hinweggekommen.
Nach Wahl und Amtsantritt am 01.Juli 2004 war das Thema „Horst Köhler“ in meiner Dienststelle am „Haus des Deutschen Ostens“ in München, einer nachgeordneten Behörde des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen noch nicht beendet. Redakteure des Österreichischen Rundfunks (ORF) hatten festgestellt, dass der Geburtsort Horst Köhlers mit Herzogenburg in Niederösterreich angegeben worden sei. Per Live-Interview wurde ich befragt, wie wahrscheinlich ich seine Herkunft als Österreicher einschätzen würde. Leider musste ich auch unsere österreichischen Nachbarn enttäuschen, konnte aber erklären, wie es zu diesem Missverständnis gekommen war. Bei der Umsiedlung der Bessarabiendeutschen im Herbst 1940 war für eine größere Gruppe von ihnen der erste, bewusst wahrgenommene Ankunftsort im „Großdeutschen Reich“ Herzogenburg, das dortige Lager der VoMi (=Volksdeutschen Mittelstelle). Dort wurde die Familie Köhler tatsächlich registriert, aber natürlich ohne Sohn Horst, der erst am 22. 02.1943 das Licht der welt erblickte. So konnte die Liste der berühmten österreichischen Politiker, die in anderen Ländern Großes bewirkt hatten, nicht mit dem Namen Horst Köhler ergänzt werden…
Ein letztes Mal wurde Horst Köhler im Haus des Deutschen Ostens in München sehr präsent, als sich der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete und Historiker Prof. Dr. Gerd Langguth, der schon eine Biografie über die Bundeskanzlerin Angela Merkel geschrieben hatte, zum Gespräch ansagte. Auch er wollte die Themen „Herkunft – Familie – Umsiedlung – Flucht – Vertreibung“ im Lebenslauf des Bundespräsidenten näher untersuchen. In Erinnerung blieb mir nur noch, dass der Biograf trotz dreier Navigationssysteme die Zufahrt zum Haus des Deutschen Ostens am Lilienberg in München nicht finden konnte und er schließlich zu Fuß an der Lilienstraße bei der Ludwigsbrücke abgeholt werden musste. Trotz dieser Widrigkeiten muss unser Gespräch über Horst Köhler von Erfolg gekrönt gewesen sein, denn in seiner Biografie (dtv 24589), erschienen in München 2007, ist zum Vertriebenenhintergrund des Bundespräsidenten alles richtig erzählt.
Erst 2011, nach seinem Rücktritt vom Amt, hat Horst Köhler seinen Geburtsort besucht und nahm in Skierbieszów an einer Geschichtsstunde mit polnischen Schülern des Gymnasiums mit dem Titel „Kinder von Zámosz“ teil, die beklagten, dass in Deutschland kaum jemand etwas über das Leid der Polen während des Zweiten Weltkriegs wisse. Dafür zeigte Horst Köhler – wohl auch aus eigener Erfahrung – großes Verständnis.
Schließlich durfte ich den inzwischen zum Alt-Bundespräsidenten gewordenen Horst Köhler, der über lange Zeit mein wissenschaftliches Thema war, doch noch persönlich kennenlernen. Dr. Ute Schmidt, eine versierte Kennerin der bessarabiendeutschen Geschichte und Soziologie, veranstaltete im Rahmen der Präsentation der Ausstellung „‘Fromme und tüchtige Leute…‘ – Die deutschen Siedlungen in Bessarabien (1814 – 1940)“ in der Parochialkirche in Berlin-Mitte eine Konferenz mit dem Titel „70 Jahre Kriegsende 1945 – 75 Jahre Umsiedlung der Deutschen aus Bessarabien, dem Baltikum, der Bukowina u. a. (1939/40)“. Dabei stellte sie den Weg der Bessarabiendeutschen aus dem Zwischenstromgebiet zwischen Dnjestr, Pruth und Donau nach Polen in die sog. „eingegliederten Ostgebiete“ und schließlich in die Bundesrepublik Deutschland dar. Von den NS-Behörden seien die Bessarabiendeutschen als „sehr gutes bäuerliches Menschenmaterial“ betrachtet worden. Es hätte den Umgesiedelten der Überblick und die politische Beurteilungsfähigkeit gefehlt, um das Geschehen für ihr eigenes persönliches Schicksal einordnen zu können. Erst in den Ansiedlungsgebieten im Warthegau mit den Einschränkungen der religiösen Betätigung hätten die Bessarabiendeutschen Zweifel an der Richtigkeit des Heimatverlustes geäußert. Da viele von ihnen in Lagern über mehrere Jahre festsaßen, waren sie auch bereit, sich im Generalgouvernement ansiedeln zu lassen. Einer, dem letztgenanntes Schicksal widerfahren war, war Bundespräsident Horst Köhler gewesen, der – im Generalgouvernement geboren – als Überraschungsgast der Konferenz über weite Strecken beiwohnte. Zu seinem Interessensmotiv erklärte der Alt-Bundespräsident, er schreibe an seiner Familiengeschichte für seine Kinder und wolle, da seine Mutter nicht viel erzählt habe, noch möglichst viel über das Schicksal seiner Herkunftsgruppe erfahren. Horst Köhler beteiligte sich intensiv an der Abschlussdiskussion, vor allem mit der Frage, inwieweit es möglich gewesen sei, die Entscheidungen der NS-Behörden zu hinterfragen und sich eine eigenständige Meinung über das Geschehen um die eigene Familie zu bilden.
Diese Erkenntnisse zeigten, dass die Erfahrungen, welche Horst Köhler in seinem reichen Leben in den höchsten politischen Ämtern der Bundesrepublik Deutschland sammeln konnte und musste, weitgehend jenen entsprachen, welche seine Landsleute als Umsiedler, Flüchtlinge, Deportierte oder Vertriebene erfahren mussten. Er war in jeder Hinsicht, auch in den Strategien der Bewältigung des Leids, einer von ihnen.