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Wenn ein Holzkoffer erzählen könnte …

Olaf Schulze · 15. Dezember 2023
Der Holzkoffer der Alma Nannt aus Borodino im November 2023 in einer vorläufigen Inszenierung in der Vitrine „Umsiedlung und Lagerzeit“. Das schwarze „Zackel“ ihrer Schwester ist rechts über den Koffer drapiert
Der Holzkoffer der Alma Nannt aus Borodino im November 2023 in einer vorläufigen Inszenierung in der Vitrine „Umsiedlung und Lagerzeit“. Das schwarze „Zackel“ ihrer Schwester ist rechts über den Koffer drapiert

In diesem Jahr 2024, in dem wir im Januar unsere neugestaltete Dauerausstellung endlich eröffnen dürfen, berichten wir über besondere Exponate aus unserem Heimatmuseum. Berichte mit besonderen persönlichen Geschichten der Stifter und Stifterinnen, die uns gerade in den letzten Jahren erzählt wurden. Diese Geschichten auch in der Dauerausstellung wirkmächtig zu machen, ist ein Ansatz der Neukonzeption.

Familie Johannes Nannt (1892-1975) im Hausgarten in Borodino, wenige Tage vor der Aussiedlung, die dritte von rechts ist die 15-jährige Alma Nannt. Ganz rechts stehen Friedrich Tetz („Fritz“; 1916-1999) und seine junge Ehefrau Hilda („Hilde“; 1919-2020) geb. Nannt, die Eltern von Lenchen Tetz.

Familie Johannes Nannt (1892-1975) im Hausgarten in Borodino, wenige Tage vor der Aussiedlung, die dritte von rechts ist die 15-jährige Alma Nannt. Ganz rechts stehen Friedrich Tetz („Fritz“; 1916-1999) und seine junge Ehefrau Hilda („Hilde“; 1919-2020) geb. Nannt, die Eltern von Lenchen Tetz.

Im Oktober 2023 kam ein besonders eingepackter Holzkoffer über einen persönlichen Boten mit fahrbarem Untersatz aus Norddeutschland zu einer Kollegin zu ihrer Privatwohnung nach Stuttgart und so ins Heimathaus in der Florianstraße. Ich hatte die Ehre, den Koffer auszupacken und ihn und seinen Inhalt in Empfang zu nehmen. Und das war spannend. Der Kofferwurde im Frühjahr bei einer Ausstellungseröffnung in Bremen (der Wanderausstellung von Ute Schmidt „Fromme und tüchtige Leute…“) in einem Kaufhaus für einen Tag gezeigt und fiel sowohl unserer Bundesvorsitzenden Brigitte Bornemann als auch der langjährigen Stellvertreterin Erika Wiener auf. Die Überbringerin des Koffers, der auch ein Teil des Inhalts gehörte, war Frau Lenchen Tetz aus Bremen. Sie und ihr Cousin Dr. Jochen Grywatsch aus Münster in Westfalen übergaben dem Heimatmuseum den Holzkoffer nebst vier beiliegenden Textilien, die alle – wie der Koffer selbst – ihre eigene Geschichte haben – eine schöne handgewebte Placht in einer eher ungewöhnlichen Farbkombination, ein großes schwarzes Schultertuch mit Fransen, ein schwarzes Zackel mit einem besonders aufwändigen Klöppelmuster und ein mit Nadelmalerei besticktes Samttuch, das wohl unter einem Regal als Zierde angehängt war, alles aus der Zeit vor der Umsiedlung 1940, alles aus Bessarabien.

Der Koffer wurde für die 15-jährige Bessarabiendeutsche Alma Nannt (1925-2010) aus Borodino extra zur Umsiedlung im Auftrag ihrer Eltern angefertigt, damit ihre Tochter darin ihre persönliche Habe verstauen konnte. Auf dem Kofferdeckel ist außen mit weißer Farbe der Name der Umsiedlerin, die individuelle Umsiedlernummer und der Herkunftsort, eben Borodino, vermerkt. Wir haben in unseren Museumsbeständen einige Umsiedlungskoffer, auch mit vergleichbaren Aufschriften. Doch auf dem Koffer von Alma Nannt hat sich diese besonders gut erhalten. Und so haben wir den Koffer als eines der zentralen Objekte für die Großvitrine in Raum 3 (Thema „Umsiedlung und Lagerzeit“) ausgewählt. Herr Grywatsch, Sohn von Alma Nannt, hat uns freundlicherweise noch ein Bild zur Verfügung gestellt, das die Familie im Garten hinterm Haus in Borodino zeigt und auf dem auch seine Mutter Alma als 15-Jährige zu sehen ist. Das Bild entstand wenige Tage vor der Umsiedlung.

Die junge Klöpplerin Marta Ost aus Borodino bei der Arbeit, um 1940

Die junge Klöpplerin Marta Ost aus Borodino bei der Arbeit, um 1940

Damals hatte Alma Nannts ältere Schwester Hilda (1919-2020), die bereits 1939 geheiratet hatte, eine besonders schwere Zeit. Ihr kleines Mädchen, das erste Kind, Wilma Tetz, geboren im Februar 1940, war Ende September bereits gestorben. Im Kirchenbuch von Borodino ist zwar ihre Geburt, aber nicht mehr ihr Tod verzeichnet. In ihrer Trauer um die verstorbene Erstgeborene, deren Grabstätte sich auf dem Friedhof von Borodino befand, wollte sie diesen Ort und auch die Kirche, wie für eine verheiratete Frau üblich, mit einem schwarzen „Zackel“, einem geklöppelten Dreieckstuch, betreten. Aber sie hatte bislang keine Zeit gehabt, es selbst zu klöppeln. So suchte sie die ortsbekannte junge Klöpplerin Frau Marta Ost auf, um ein fertiges „Zackel“ zu erwerben. Dieses Zackel begleitete sie auch auf ihrem späteren Lebensweg und erinnerte sie stets an ihre erste Tochter, deren Grab in Bessarabien so fern war. Das Besondere ist nun dadurch auch, dass wir bei diesem „Zackel“ daher ganz sicher sind, wer es hergestellt hat und dass es sogar eine Fotografie in einem Bildband über Borodino gibt, die Frau Ost beim Klöppeln zeigt. Wir haben nur noch für wenige der bei uns aufbewahrten „Zackel“ solche konkreten Informationen.

Liebe Leserin und lieber Leser, Sie merken, es macht Sinn zu bestimmten Objekten, die eine lange Geschichte innerhalb der Familie haben, sich diese Geschichten weiterzuerzählen und auch zu fixieren, aufzuschreiben. Schauen Sie doch mal, ob das nicht auch für ein paar Gegenstände aus Ihrer Familie sinnvoll wäre. Andernfalls verlieren die Objekte viel von ihrer ursprünglichen Sinnhaftigkeit und Bedeutung.

Ihr Olaf Schulze, Museumskurator