Der Titel kommt woher?
Bessarabien-Logo
Bessarabien­deutscher
Verein e.V.
Dobrudscha-Logo

Wir suchen „Ankunftsgeschichten“ aus dem Jahr 1945

Brigitte Bornemann , Hartmut Knopp , Olaf Schulze · 20. Februar 2025
Elfriede Schlauch mit ihrem Mann Eduard (1905–1944)  und ihren beiden Töchtern Dagmar (Jg. 1931) und  Hedwig (Jg. 1930), um 1940
Elfriede Schlauch mit ihrem Mann Eduard (1905–1944) und ihren beiden Töchtern Dagmar (Jg. 1931) und Hedwig (Jg. 1930), um 1940

Liebe Leserinnen und Leser,

am Sonntag, den 6. April 2025, wird der diesjährige Kulturtag im Heimathaus der Bessarabiendeutschen stattfinden. Dieser steht unter dem Motto: „Heimat finden“. Dabei wird unter anderem mit einer Lesung aus Erinnerungstexten der Frage nachgegangen: Wie war das 1945, am Ende der Flucht, vor achtzig Jahren? Wie wurden die Bessarabien- und Dobrudschadeutschen aufgenommen? Wo und wie kamen sie am Anfang unter? Begegneten ihnen Ressentiments oder Handlungen der Nächstenliebe? Wann wurden die Orte in West- oder Ostdeutschland zur „neuen Heimat“? Wurden Sie es überhaupt? Oder erst für die nächste Generation?

Natürlich haben wir schon einen ganz beachtlichen Bestand an Lebensgeschichten. Dennoch würden wir Sie gerne auffordern, schreiben Sie uns Ihre Erinnerungen oder die Ihrer Eltern/Großeltern auf. Und senden Sie diese per Post oder Mail an den Bessarabiendeutschen Verein. Wenn möglich bis zum 20. März, damit wir noch genug Zeit haben, die Geschichten zu sichten und daraus eine Lesung zusammenzustellen. Anfang Januar übergab uns ein neuer ehrenamtlicher Mitarbeiter, Herr Andreas Nill, die Geschichte der Flucht und Ankunft seiner Großmutter, Elfriede Schlauch (geb. Bälder) aus Beresina, von denen wir einen Auszug hier als Beispiel, was wir suchen, abdrucken.

Wir sind gespannt auf Ihre Geschichten – und sagen schon einmal im Vorfeld „Danke.“

Brigitte Bornemann, Dr. Hartmut Knopp und Olaf Schulze
Stuttgart, im Februar 2025

„Wir waren die ersten Flüchtlinge in Marbach …“

Elfriede Schlauch in ihrer Wohnung in  Marbach a.N., um 1960

Elfriede Schlauch in ihrer Wohnung in Marbach a.N., um 1960

Die Erinnerungen der Elfriede Schlauch, geborene Bälder (1906–1978), aus Beresina in Bessarabien, aufgezeichnet von Eugen Munz (Marbach am Neckar) im Juli 1973 (leicht gekürzt).

(…) Von Litzmannstadt [Lodz] kamen wir dann im Mai 1941 nach Rippin/Danzig, Westpreußen. Mein Mann Eduard Schlauch wurde auf dem Landratsamt in Rippin [Rypin] als Beamter angestellt. In Rippin wurde [im August 1941] auch mein Sohn Eduard geboren. Am 13. Oktober 1944 verunglückte mein Mann tödlich. Am 18. Januar 1945 begann die Flucht. Ich musste alles zurücklassen bis auf meine drei Kinder. Mein Sohn Eduard war erst drei Jahre alt. Das erste Ziel war Pommern. Dort waren wir drei Wochen, bis die Front nur noch drei Kilometer entfernt war. Mit dem Zug fuhren wir nach Schwerin in Mecklenburg. Auf der Fahrt ereignete sich folgendes: Wir saßen in einem Wagen des fahrenden Zuges, als meine Tochter Hedwig behauptete, sie hätte jemand um Hilfe rufen hören. Niemand wollte ihr glauben, bis alle den Ruf wahrnahmen. Einer der Männer öffnete darauf die Türe des Wagens und sah ein Mädchen, das sich verzweifelt außen festhielt. Es stellte sich heraus, daß das Mädchen auf einem Bahnhof habe aufspringen wollen, sich aber nur noch außen festhalten konnte.

In Schwerin blieben wir 1 ½ Monate. Als uns die Fliegerangriffe zu stark wurden, gingen wir aufs Land, da wir dachten, dort wäre es besser. Aber es war nicht besser. Auf dem Gut, auf welchem wir waren, lebten die Arbeiter noch wie vor hundert Jahren. Sie kochten auf einer offenen Feuerstelle. Da wir unter ihnen lebten, erfuhren wir, dass alle Kommunisten waren. Sie hatten das Eigentum des Besitzers schon unter sich verteilt. Sie boten uns auch einen Teil an, wenn wir blieben. Doch wir machten, dass wir weiterkamen. Der Gutsbesitzer gab uns einen Wagen und ein Pferd, da keine Züge mehr fuhren. So fuhren wir mit dem Pferdewagen nach Holstein. Wir konnten nur nachts fahren, weil tagsüber die Bombenangriffe zu stark waren. In Holstein kamen wir in das kleine Dorf Gleschendorf bei Eutin. Dort bekamen wir aber keine Wohnung, sondern mussten in einem Schießstand kampieren. Als die Engländer Holstein besetzten, hatten wir Angst, dass sie uns sofort umbringen würden. Aber sie wollten von uns gar nichts und ließen uns in Ruhe. In Holstein blieben wir 1 ½ Monate.

Nun machten wir uns auf den direkten Weg nach Marbach. Auf dem Weg übernachteten wir einmal in einem Stall in der englischen Zone. Es war im Juli. Mitten in der Nacht weckten uns englische Soldaten und nahmen uns mit auf das Kommando. Die Kinder mussten wir schlafen lassen und durften sie erst am nächsten Morgen uns nachholen. Der dortige Offizier war ein Jude. Als er hörte, dass wir eingebürgerte Auslandsdeutsche waren, sagte er uns, dass er uns nicht mehr helfen wolle. Wären wir nicht eingebürgert worden, hätte er uns alles Nötige gegeben und uns geholfen. Erst abends ließ man uns wieder gehen, weil wir keine Papiere hatten. Von ihnen bekamen wir auch keine, aber wir kamen trotzdem gut über die Grenze in die amerikanische Zone.

Der Weg nach Marbach führte uns von Holstein über Niedersachsen, Hessen und Baden nach Württemberg. Für diese Reise benötigten wir 23 Tage, davon waren wir die meiste Zeit zu Fuß unterwegs. In der Nacht mussten wir meistens unter freiem Himmel schlafen. Nur selten fanden wir in einer Scheune oder in einem Stall Unterschlupf. In Hessen fragte uns eine alte Frau, wo wir denn unsere Hunde hätten. Da sie noch keine Flüchtlinge gesehen hatte, glaubte sie, wir wären Schausteller und würden mit Hunden Kunststücke vorführen.

Am 3. August kamen wir von Heilbronn kommend in Marbach an. In der ganzen Stadt fanden wir kein Zimmer. Wir mussten in einer Scheune bei Paul Stängle hausen, bis man uns einen Raum in der alten Schule gab.

Wir waren die ersten Flüchtlinge in Marbach. Die Kinder hielten uns für Zigeuner, da sie noch keine Flüchtlinge gesehen hatten. Das Sammeln von Fallobst bei Paul Stängle war unsere erste Arbeit in Marbach.

Das gesamte Gepäck war uns unterwegs verloren gegangen, und meine ganze Barschaft betrug 50 Pfennige. Vom Rathaus bekam ich dann einen Zuschuss von 58 Mark.

Meine Tochter Hedwig musste gleich mitverdienen. Sie bekam in der Gärtnerei Hild Arbeit. Meine Tochter Dagmar ging damals noch zur Schule. Sie bekam auf dem Makenhof Arbeit. Tagsüber ging ich arbeiten und in der Nacht flickte ich Kleider und machte Hausschuhe. Als Bezahlung bekam ich kein Geld, sondern Waren, die wir dringend benötigten.

Da ich aber auf dem Makenhof zu wenig verdiente, ging ich dort weg und ging nach Helfenberg auf ein Gut. Dort verdiente ich 8 ½ Zentner Zuckerrüben und 20 Pfund Weizen. Von den Zuckerrüben kochten wir uns Sirup und den Weizen tauschten wir in Mehl um.

Im Herbst sammelten wir Bucheckern und brachten sie in die Ölmühle und ließen uns davon Öl machen, welches wir auch sehr dringend benötigten.

Eine bekannte Frau hatte in Amerika einen Bruder, mit dem sie korrespondierte. In einen ihrer Briefe legte ich auch einen Brief an unsere Verwandten in Amerika. Der Bruder der Bekannten gab eine Anzeige mit unserer Adresse in einer großen amerikanischen Zeitung auf. Und wirklich! Nach einem Vierteljahr, ich hatte es ganz vergessen, kam ein Paket aus Amerika mit Lebensmitteln und Zigaretten. Hätten die Verwandten nicht damit begonnen, Pakete zu schicken, wären wir verhungert. Von da an ging es uns immer besser und wir brauchten nicht mehr zu hungern.