Gedenktag der Verschwundenen Umsiedler am 22.09.2023
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Foto: Pia Schlechter
Schon zum vierten Mal fand im Heimathaus in Stuttgart die Gedenkfeier für die bessarabiendeutschen Opfer der NS-„Euthanasie“ statt. In ihrer Begrüßung stellte Bundesvorsitzende Brigitte Bornemann auch die Historische Kommission des Bessarabiendeutschen Vereins vor, deren Initiative sich der Gedenktag ebenso wie die 2016 im Haus der Bessarabiendeutschen eingerichtete Gedenkstätte der Verschwundenen Umsiedler verdanken. Grundlage war die Forschungsarbeit von Dr. Susanne Schlechter, die uns die Ehre gab, ihre endlich abgeschlossene wissenschaftliche Buchveröffentlichung als Hauptpunkt des diesjährigen Programms zu präsentieren.
Brigitte Bornemann skizzierte den Hintergrund des Gedenktags. Erinnert wird an den 25. September 1940, den Tag der Krankentransporte aus dem Alexanderasyl in Sarata zum Donauhafen Galatz. Dieses Ereignis markiert den Beginn der Umsiedlung „Heim ins Reich“. In allen bessarabischen Dörfern wurden zuerst die Alten, Kranken und Behinderten abtransportiert. Schon Wochen vorher hatten die bessarabischen Ortsvorsteher und Bezirksärzte Listen aufgestellt, wer von den Umsiedlern eine besondere medizinische Betreuung benötigte. Man glaubte an eine besondere Umsicht und Fürsorge, doch mit der Übergabe der Patienten in Galatz brach der Kontakt ab. Wenige Wochen später erreichte die Familien, die inzwischen in den Umsiedlungslagern lebten, eine Todesnachricht. Man wunderte sich, aber hatte nicht die Mittel, der Frage nachzugehen, die sich über die Wirren der Zeit verlor.
Es sollte mehr als 60 Jahre dauern, bis das Schicksal der Verschwundenen aufgeklärt wurde. Durch die Forschungsarbeit von Susanne Schlechter wissen wir heute, dass die Alten, Kranken und Behinderten, darunter auch politisch Widerständige, Opfer der NS-„Euthanasie“ wurden, der planvollen Tötung sogenannten „lebensunwerten Lebens“. Unsere Gedenkstätte der Verschwundenen Umsiedler verzeichnet 210 Namen von Menschen mit Geburts- und Todesdatum, die während der Umsiedlung in einer Krankenanstalt zu Tode kamen. Es brauchte eine akribische Detektivarbeit, um die Schicksale Einzelner nachzuverfolgen und das mörderische System dahinter, die Verbindung mit der „T4-Aktion“ der NS-Krankenmorde, zu erkennen.
Unser Gedenktag ist diesen beiden Zielen gewidmet: Wir gedenken der Menschen, die Opfer wurden, und geben ihnen ihre Würde zurück. Ebenso geben wir der Wissenschaft die Ehre, die sich der Wahrheit verpflichtet, einem der höchsten Werte auch im christlichen Sinne. Zu wissen, wie es wirklich war, gibt uns die Klarheit, Recht und Unrecht zu unterscheiden, und die Freiheit, das Böse nicht wiederholen zu müssen.
Eine stille Andacht an der Gedenkstätte gehört zu dem bereits gewohnten Ablauf der Gedenkfeier. Die musikalische Begleitung übernahm wieder sehr einfühlsam das Musikerehepaar Oliver Dermann und Birgit Maier-Dermann. In einer feierlichen Prozession gingen die Teilnehmer zur Gedenkstätte und zündeten eine Kerze an für einen verschwundenen Angehörigen oder sonst ein Opfer von Krieg und Unrecht, das ihnen wichtig ist.
Dann kamen die Ehrengäste zu Wort. Hartmut Liebscher, Landesvorsitzender des Bund der Vertriebenen Baden-Württemberg, sprach seine Anerkennung für die Arbeit des Bessarabiendeutschen Vereins aus. Hans-Werner Carlhoff berichtete von den Baltendeutschen, dass auch bei deren Umsiedlung Tötungen vorkamen und hierüber seit einigen Jahren geforscht wird.
Den wissenschaftlichen Vortrag hielt Dr. Hans-Christian Petersen aus Oldenburg. Sein Institut BKGE Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa ist mit der Forschungsförderung im Rahmen des Bundesvertriebenengesetzes beauftragt. Das Buch von Susanne Schlechter ist unter seiner Obhut in der Schriftenreihe des BKGE erschienen. Dr. Petersen sprach unter dem Titel „Die Rolle der Wissenschaft bei der Vergangenheitsbewältigung“ über den Wahrheitsbegriff in Zeiten von Kriegspropaganda und Fake News, die Rolle von Schweigen und Mythenbildung. Der Vortrag wird im Jahrbuch 2025 erscheinen.
Nun war Raum für Susanne Schlechter mit ihrer Buchvorstellung „Verschwundene Umsiedler aus Bessarabien. Eine Spurensuche“. Es ist die wissenschaftliche Auswertung des Nachlasses einer NS-Schwester, die bei der Umsiedlung der Bessarabiendeutschen mitwirkte. Dr. Schlechter erläuterte ihre an die Kriminalistik angelehnte Forschungsmethode und trug einige Abschnitte des Quellenmaterials vor. U.a. erfuhren wir von der Irritation der „braunen Schwester“ über das Tragen der Kinder in der Placht, das sie den bessarabischen Müttern abgewöhnen wollte.
Brigitte Bornemann wünschte dem knapp 800 Seiten starken Werk eine breite Leserschaft und hob den anschaulichen Schreibstil hervor, der sich wie ein Kriminalroman liest. Sie gab der Hoffnung Ausdruck, auch die weiteren Forschungsarbeiten von Susanne Schlechter bald gedruckt zu sehen, vor allem die bisher unveröffentlichten Fallgeschichten der verschwundenen Umsiedler, aus denen bei den vergangenen Gedenktagen gelesen wurde.
Bei der abschließenden Kaffeetafel signierte die Autorin ihr Buch, das auf dem Büchertisch auslag. Noch lange saßen die Gäste beim Gedankenaustausch beisammen.