Film-Einführung: „Exodus auf der Donau“
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Dampfer „Franz Schubert“, Ansichtskarte Besitz Sigrid Standke
Die Technik der Film-Aufnahme inklusive der Kamera-Technik war in den 1930er-Jahren soweit gediehen, dass sie auch von technisch versierten Amateuren bedient werden konnte. Eine erste Generation von Hobby-Filmern entstand. Zu ihnen gehörte Nándor Andrásovits aus Ungarn – und er war genau das: Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän.
Sein Schiff war die „Érszébet Királnye“, die „Königin Elisabeth“, benannt tatsächlich nach jener im 19. Jahrhundert lebenden Königin von Ungarn, die Romy Schneider im deutschsprachigen Heimatfilm der 1950er-Jahre dann verkörpern sollte: „Sisi“. Das Schiff gehörte zur Flotte einer in Budapest beheimateten Reederei, die ihr Geld vor allem damit verdiente, in der Urlaubssaison Touristen auf der Donau spazieren zu fahren. Vor allem deutsche Touristen. Deutschland war auch schon in den 1930er-Jahren das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land Mitteleuropas. Zudem war die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ seit 1933 die erste ganz große Pauschalreise-Anbieterin in Europa, die Tourismus von einem Eliten- zu einem Massenphänomen machte. Die Saison dauerte gewöhnlich je nach Wetterlage etwa von April bis Oktober. In den Sommermonaten gab es oft so viele Fahrten, dass Kapitän Andrásovits zuweilen wochenlang kaum einmal nach Hause kam. Dafür war dann im Herbst und Winter umso weniger los. Um Frau und Kindern im Heimkino dann zeigen zu können, was der Papa so gemacht hatte, während er unterwegs war, hatte Kapitän Andrásovits immer seine Kamera dabei. Das ist der Hauptgrund, warum die hier gezeigten Filmaufnahmen existieren.
Im Sommer 1939 hatte Kapitän Andrásovits allerdings ganz andere Fahrgäste an Bord. Es waren orthodoxe Juden aus Wien und Bratislava, die von einer jüdischen Hilfsorganisation aus dem Herrschaftsbereich von Nazi-Deutschland, zu dem seit 1938 auch das „angeschlossene“ Österreich und ein faschistisches Marionettenregime in der Slowakei gehörten, freigekauft worden waren. Unter Leitung ihres Rabbiners Aaron Grünhut versuchten sie nun, nach Palästina zu entkommen. Sie waren ein Teil von regelrechten Fluchtwellen, die das zum Expansionskrieg schreitende Nazi-Regime Ende der 1930er-Jahre verursachte und mit denen insbesondere die demokratisch gebliebenen Länder der Zeit umgehen mussten. Die Bremer Shakespeare Company hat 2019 bereits eine andere Geschichte aus diesem Zusammenhang erzählt: Die Irrfahrt der „MS St. Louis“ nach Amerika und die Konferenz von Evian in Frankreich, wo sich 1938 die politischen Repräsentanten der „westlichen“ Länder auf Einladung des US-Präsidenten trafen und nur in einem Punkt Übereinstimmung fanden: dass man die Flüchtlinge jedenfalls nicht im eigenen Land haben wollte. Auch Großbritannien nicht, zu dessen Empire das damalige Palästina 1939 gehörte und wo die britische Regierung – zu Recht, wie wir heute wissen – massive Konflikte zwischen jüdischen Neusiedlern und alteingesessener arabischer Bevölkerung befürchtete. Also übte sie Druck auf das kleine, wirtschaftlich schwache und mühsam um seine politische Neutralität ringende Bulgarien aus, die „Érszébet Királnye“ gar nicht erst über seine Donau-Grenze hinauskommen zu lassen. Kapitän Nándor Andrásovits fand sich damit unversehens im Zentrum eines internationalen Konfliktes wider, bei dem es um das Leben der seinem Schutz anvertrauten jüdischen Flüchtlinge ging.
Ein gutes Jahr später, im September 1940, hatte Kapitän Andrásovits erneut ungewöhnliche Fahrgäste an Bord. Die „Érszébet Királnye“ war neben 26 anderen Schiffen vom Reichskommissar für die Festigung des Deutschen Volkstums gechartert worden. Reichskommissar für die Festigung des Deutschen Volkstums war Heinrich Himmler, im Erstberuf zugleich Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 hatte Mittelost-Europa als Herrschaftsgebiet unter den beiden Diktatoren aufgeteilt. Fünf deutschsprachige Bevölkerungsgruppen, deren Siedlungsgebiete zukünftig vor allem zu dem Herrschaftsgebiet Stalins gehören sollten, wurden in das Herrschaftsgebiet Hitlers umgesiedelt, um dort als „arisches Menschenmaterial“ zu – im Nazi-Jargon, der LTI, der Lingua Tertii Imperii – sogenannten „Aufrassungs“-Projekten zu dienen: die Baltendeutschen, die Wolhyniendeutschen, die Bukowinadeutschen, die Dobrudschadeutschen und eben die Bessarabiendeutschen. Bessarabien – das Land, das heute die Republik Moldau sowie der südwestlichste Teil der Ukraine ist – gehörte zwischen 1918 und 1940 zu Rumänien. Im Juni 1940 war es von der Roten Armee besetzt worden, so wie es die Vereinbarung der beiden Diktatoren vorsah. Im September des Jahres erschien dann ein SS-Kommando unter dem Befehl des SS-Obergruppenführers Werner Lorenz, das gemeinsam mit dem sowjetischen NKWD die Umsiedlung der Bessarabiendeutschen durchführte. „Durchführte“ – übrigens auch so ein Begriff aus der LTI. Diese Umsiedlung wurde über die rumänischen Donau-Häfen Galatz und Ismailia abgewickelt und dafür brauchte man Schiffe. Die Filmaufnahmen von Kapitän Nándor Andrásovits sind die einzigen erhaltenen von dieser Aktion, die nicht der Zensur eines Propagandaministeriums oder eines ZK-Sekretariats unterworfen waren.
Im Sommer 1941 fuhr Kapitän Nándor Andrásovits dann wieder deutsche Touristen auf der Donau spazieren.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde im nunmehr zum Herrschaftsgebiet der Sowjetunion zählenden Ungarn die Reederei als privatwirtschaftliches Unternehmen geschlossen und die Angestellten ins existentielle Nichts entlassen.
Nándor Andrásovits ist 1952 in großer Armut verstorben. Seine Witwe überlebte ihn um Jahrzehnte. Sie erlebte auch noch die Umbrüche des Jahres 1989, die wohl niemand vergessen wird, der sie miterlebt hat. Diese Umbrüche waren der Kontext, in dem sie die alten Hobbyfilme ihres vor langer Zeit verstorbenen Mannes vom buchstäblichen Dachboden kramte und den Filmemacher Péter Forgács kontaktierte. Was heute, in den Zeiten von Viktor Orban, schon fast wieder in Vergessenheit geraten ist: Die ungarische Bürgerrechtsbewegung gehörte zu den Schlüsselfaktoren, die 1989 den Fall des „Eisernen Vorhangs“ möglich gemacht haben. Nicht zuletzt sie qualifizierte Ungarn auch zum Mitgliedsland der EU. Péter Forgács ist einer ihrer profiliertesten Vertreter im medienkünstlerischen Bereich. Bereits seit 1983 hatte er ein privates Foto- und Filmarchiv in Budapest angelegt, das mit seiner einzigartigen Sammlung an Amateurfilmen „Geschichte von unten“ dokumentierte. Zur Erinnerung: Youtube, Facebook, Twitter und entsprechende digitale Social Media gibt es erst seit dem 21. Jahrhundert. Die Sichtung des filmischen Nachlasses von Nándor Andrásovits ließ schnell dessen historisch-politische Brisanz evident werden, insbesondere die Dokumentation der jüdischen Flüchtlinge von 1939. Der filmische Teil von 1940 verursachte dagegen zunächst einmal vor allem Erklärungsbedarf. Von ihrem Mann hatte die Witwe noch in Erinnerung, dass es sich dabei um Deutsche handeln sollte. Aber diese Gestalten in ihrer traditionellen osteuropäischen Kleidung sahen überhaupt nicht so aus, wie man sich 1989 in Ungarn Deutsche vorstellte. Es dauerte noch Jahre, bis der Kontakt zum Bessarabiendeutschen Heimatmuseum in Stuttgart und seinem damaligen Leiter Ingo Isert hier für Klärung und auch für den Beitrag von weiteren Zeitzeugen sorgte.
Der Film ist international mit großem Erfolg gelaufen. So widmete ihm etwa das Getty Research Institute in den USA 2002 sogar eine eigene Ausstellung. In Deutschland war er bisher weniger erfolgreich. Warum auch immer.
Nándor Andrásovits hat sich durch diese filmischen Dokumente ein Denkmal gesetzt. Ein Denkmal gegen Rassismus, Diktatur und menschenfeindliche Politik. Das war nicht seine Absicht gewesen. Seine Absicht war es lediglich, Frau und Kindern zu Hause zu zeigen, was der Papa so macht, wenn er mit dem Schiff unterwegs ist.