Die Schatten der Nacht auf dem Friedhof

privat
Dieser Text wurde von Willibald Wisosenschi nach der Wende in Rumänien, also nach 1990, in Erinnerung an die schwere kommunistisch geprägte Nachkriegszeit geschrieben. Seine Tochter Andreea Wisosenschi ist dabei, den Nachlass ihres Vaters aufzubereiten und hat die Übersetzung ins Deutsche vorgenommen.
Die Geschichte handelt auf dem deutschen Friedhof von Karamurat, heute Mihail Kogălniceanu, im Kreis Konstanza, Dobrudscha. Der Vater des Erzählers ist Virgiliu Wisosenschi genannt „Gil“, geboren am 08.10.1917 in Karamurat, gestorben am 08.06.1972 auch in Karamurat. Als junger Mann wollte er Matrose werden, aber nach 1945 musste er alle seine Pläne und Träume aufgeben. Die einzige Arbeit, die er fand, war bei der CAP, wo er die Kühe hütete. Er starb im Alter von nur 54 Jahren, nachdem er von einer kranken Kuh mit Milzbrand angesteckt wurde.
Friedhöfe sind die Orte, die die unerwartetsten Stimmungen hervorrufen. Hierher bringt man seine Freunde, seine Eltern, seine Verwandten, und alle menschlichen Sorgen finden hier ein Ende. Für manche Menschen erzeugen Friedhöfe einen Zustand der Angst, des Grauens, und die Angst vor dem Tod entstellt sie fast. Ich habe Menschen, vor allem Frauen, gesehen, die das Gefühl eines ständigen Schmerzes haben, während sie sich in diesem Bereich der Ewigkeit für den Menschen befinden. Für einige ist der Friedhof jedoch ein Ort der Erinnerung, des Seelenfriedens, für andere ein Ort der traurigen Beichte, des Gesprächs mit den Gräbern geliebter Menschen, des Bekenntnisses und der Erleichterung des Kummers, des Leidens aufgrund schwerer Verluste, oder der tiefen Ehrung und des ewigen Gedenkens an diejenigen, die gegangen sind und nicht wiederkommen.
Der Friedhof ist jedoch auch ein Ort der Verehrung, ein christlicher Ort der Tradition und Geschichte, der Ehrfurcht und des Respekts vor den verstorbenen Seelen. Es sind Friedhöfe, Räume der Ewigkeit von erschreckender Schönheit, mit Blumen, vielen Blumen und einer unvorstellbaren Sauberkeit, und die Pflege der Gräber der Verstorbenen ist eine heilige Pflicht, fast rituell, die mit einer solchen Heiligkeit und Akribie ausgeführt wird, dass sie magisch erscheint. Alle Menschen, die ganze Menschheit, selbst die barbarischen Völker, hatten einen Totenkult, den sie respektierten und bei ihren Raubzügen umgingen, um die Ruhe der Menschen in den Nekropolen der von ihnen eroberten Gebiete nicht zu stören. Sie alle hatten einen Glauben, sie alle hatten einen eigenen Gott, egal wie sie ihn nannten, sie alle hatten eine Furcht vor heiligen Dingen, nur die Kommunisten waren heidnischer als die Heiden, und wenn ein Mensch nicht die religiöse Moral oder die religiöse Struktur in sich hat – mit der wir geboren werden – dann ist alles nutzlos.
Die Bolschewiken, diese ungläubigen Bestien, die so viele unschuldige Menschen wie Tiere töteten, sie dann in Massengräbern verscharrten, sie der christlichen Bräuche beraubten, sie ohne Kerzen und Priester an ihren Häuptern bestatteten, ohne überhaupt die Gräber (oder Gruben) zu kennen, in denen sie begraben wurden (und so ihre Gräuel vor der Entdeckung zu verbergen). Sie hassten nicht nur die Menschen, sondern auch ihre Begräbnisstätten. In allen heiligen Dingen sahen sie Feinde des Volkes. Stellen Sie sich vor, sogar Friedhöfe galten als gefährlich, weil sie die kommunistische Moral störten und verdächtig wurden.
Meine Großmutter, die kleine Kinder hatte, die auf dem Friedhof begraben waren, und einen Sohn, der im Krieg gefallen war, hatte Angst, tagsüber auf den Friedhof zu gehen, damit sie nicht von jemandem gesehen und dann befragt, bedroht und terrorisiert werden konnte.
Manchmal nahm sie mich, das älteste ihrer Enkelkinder, mit auf den Friedhof, aber nur abends, damit wir nicht gesehen wurden. Dort, am Grab meines Onkels, sprach sie eilig ein Gebet, legte einen Blumenstrauß nieder, weinte, um sich zu erleichtern, und dann liefen wir weg und verließen den Friedhof in großer Angst, wie Übeltäter, die ein Verbrechen begangen hatten. Erst viel später verstand ich die immense Rolle der christlichen Moral, die die Menschheit im Gleichgewicht, im Frieden, im Guten und in der Frömmigkeit hielt.
Ferdinand/Karamurat, mein Heimatdorf, ein uraltes Dorf mit tiefen Wurzeln in der Geschichte, ist eine heterogene Siedlung, in der Deutsche, Türken, Tataren und Aromunen neben den Rumänen leben, die ihre Gotteshäuser und Kirchen je nach ihrer Religion (Kult) in verschiedenen Zeit räumen gebaut haben. Die Rumänen bauten eine orthodoxe Kirche, die Türken eine Moschee im südlichen Teil des Dorfes und die Deutschen eine prächtige katholische Kirche aus Stein und Ziegeln, schlank, hoch, mit einem hohen Turm, der das Gewölbe des Himmels zu durch stoßen scheint (gotischer Stil), mit einer Uhr mit vier Zifferblättern, die in die vier Himmelsrichtungen zeigen – der einzige Indikator für den Lauf der Zeit für alle Bewohner des Dorfes. Diese monumentale katholische Kirche ist ein wahrer Tempel des katholischen Kults und das repräsentativste katholische Bauwerk der ganzen Dobrudscha. Sie ist mit einem Blechdach gedeckt und hat dicke Mauern wie eine Festung. Am Eingang – im In nenhof der Kirche – befindet sich rechts von der Tür ein großes Holzkreuz, das den gekreuzigten Jesus Christus darstellt, mit der Dornenkrone auf dem Haupt und mit dem von den Nägeln, die seinen heiligen Körper durchbohrten, verwundeten, blutenden Körper.
Wenn man die Kirche betritt, ist man sofort von der Erhabenheit dieses Gebäudes beeindruckt. Rechts und links befinden sich die Sitz- und Gebetsbänke, die in einer perfekten Reihe angeordnet und sehr sauber sind, wo jeder Gläubige sein Gebetbuch und sein Kissen hat. Darüber befindet sich ein blaues Gewölbe, das die Decke bildet und mit Sternen übersät ist. Abends bei der Vesper, wenn die Dämmerung einsetzt, hat man den Eindruck, dass es sich um ein Himmelsgewölbe handelt. Durch die Buntglasfenster dringt diffuses Licht und eine schwere Stille lastet auf der Seele. An den Seitenwänden befinden sich 14 in Holz geschnitzte Kreuzwegdarstellungen.
Wenn man den Blick nach vorne richtet, sieht man die großen, lebensechten Statuen der Jungfrau Maria auf der linken Seite und des Heiligen Josef auf der rechten Seite. Vorne links befindet sich die Kanzel und rechts, ebenfalls vor den Kirchenbänken, das Taufbecken (wo die heilige Taufe vollzogen wird), und darüber der heilige Antonius mit Jesus Christus in den Armen. Der Altar, dieser heilige Ort, an dem ich als Kind während der Gottesdienste neben dem Priester als Ministrant saß, ist von absoluter Schönheit, er ist der Ort, an dem Gott auf die Erde kommt. Im hinte ren Teil der Kirche, über dem Eingang, ist ein Raum für den Chor eingerichtet, eine Innentreppe hinauf, hier steht eine alte Orgel, an der wir religiöse Gesänge lernten und um die wir uns alle zum Singen versammelten.
Das ist unsere Kirche, die zwischen 1897 und 1898 von den einheimischen Deutschen finanziert und von italienischen Handwerkern gebaut wurde, von denen es im Dorf hiess, sie seien direkt vom Papst aus Rom geschickt worden. Mit Wehmut erinnere ich mich daran, wie meine Groß mutter Julia uns Enkelkindern erzählte, wie sich beim Bau unserer Kirche alle Kinder um diese italienischen Handwer ker scharten, die den ganzen Tag sangen, während sie arbeiteten, wie sie ihnen alle möglichen lustigen Tricks beibrachten und sie dann schickten, Frösche von den Wasserspeiern zu fangen, wofür die Kinder Geld bekamen. Auf dem Kirchhof gibt es auch eine deutsche Schule, wie sie in der Sprache der Dorfbewohner genannt wird, das Pfarrhaus mit einem Dachgeschoss für karitative Zwecke, in dem die Nonnen wohnten.
Gleichzeitig mit der Kirche wurde – wie es sich gehört – auch ein katholischer Friedhof angelegt. Er befindet sich am östlichen Rand des Dorfes, an der Kirchenstrasse. Es handelt sich um einen 0,5 ha großen Friedhof, der von einer hohen, schön geschnitzten Steinmauer um geben ist. Der Eingang ist mit einem schmiedeeisernen Tor versehen und führt dann über einen Hauptweg zu einem Altar mit einem Hochkreuz, an dem Gottes dienste zum Gedenken an die Verstorbe nen abgehalten werden. Die Erwachsenen werden auf der linken Seite des Friedhofs beigesetzt, die Kinder auf der rechten Seite. Als ich noch klein war, fand ich ihn so schön, dass ich einfach nur darin sitzen wollte. Ich weiß nicht, warum, aber als kleines Kind fühlte ich mich vom Friedhof angezogen. Er hat mich so beein druckt, vielleicht weil er so schön und ordentlich war, mit Blumen, Kerzenständern, allen Arten von Kreuzen, die einzigartig waren, und immer frischen Blumen auf den Gräbern. Damals wusste ich noch nicht, dass ich einmal die Nachtwache für diese Gräber übernehmen würde. Ich kann sagen, dass ich damals wie heute eine gewisse Vorliebe für Friedhöfe hatte.
In der Schule hatten meine Cousins Tony und Grigorius – wie ich sie nannte – und ich viel zu leiden, weil wir in die Kirche gingen, Ministranten waren und den Pfarrer begleiteten. Deswegen galt ich als schlechtes Vorbild, als ein Ärgernis, das die anderen Kinder verunreinigte, ein Außenseiter, ein „Satan“ in der damaligen Pädagogik. Ich wurde immer wieder getadelt und musste mit einem Schulverweis rechnen. Es gab damals gute und schlechte Lehrer, einige waren überzeugte Kom munisten, andere fürchteten nur um ihre Existenz. Einige verteidigten mich, andere im Gegenteil.
Es war das schrecklichste Jahrzehnt in der Geschichte Rumäniens, das Jahrzehnt der 1950er und 1960er Jahre, ein Jahrzehnt der Angst und des Terrors, der reinen Krankheit, in dem wir jeden Morgen die Leute im Dorf reden hörten: „Der Nachbar Plotzki Hans ist abgeholt worden“, „sie haben Fähnrich zur Miliz gerufen“, „sie haben Arnold durchsucht“, „Sie haben Balthasar zu Brei geschlagen“ und alle möglichen an deren schockierenden Nachrichten. Jede Nacht war ein Alptraum, wir hörten Schritte vor unseren Fenstern und dumpfe Geräusche und Worte, die aus der Stille der Nacht kamen, manchmal fanden wir Zigarettenstummel in der Ecke des Hauses oder unter den Bäumen im Vorgarten. Wir wussten nicht, wie eigenartig der Mensch ist, wie widerstandsfähig und unerschöpflich! In dieser Wildnis zu leben, gejagt zu werden wie ein Raubtier und trotzdem zu überleben! Das ist wirklich kolossal! Nur der Mensch kann so sein! Er, der Mensch, wie der liebe Gott … nur weiß er zu leiden und dann zu leben, in dem er seinen Feinden vergibt. Das Leben war überall wie ein Lager: zu Hause hatte man Angst vor den Nachbarn, auf der Straße gab es unsichtbare Augen, die einen beobachteten, bei der Arbeit, in der Schule, in der Mühle, in der Kirche, auf dem Friedhof, beim Spielen, es gab immer jemanden, der dein Schutzengel (oder besser gesagt „Abhörengel“) war.
Wenn ich mich an diese Leiden erinnere, werde ich traurig, ich schaudere und kann nicht glauben, dass es sie wirklich gegeben hat. Eine rote Ratte (Bandit) kam aus dem Bezirk mit einem Perceptor und nahm uns alles weg, wir hatten nichts zu essen. Meine Mutter weinte, mein Vater knirschte mit den Zähnen, mein Großvater fluchte auf Deutsch, und Großmutter Julia betete zu Gott „Gott steh uns bei!“ und weinte die ganze Zeit. Wir hatten nichts auf dem Tisch, und ich erinnere mich, wie wir jahrelang Polenta, Schmalz und Essiggurken gegessen haben, und Papa war nirgendwo angestellt.
Was kann ich über unsere Kleidung sagen? Sie war schäbig, aber sie hatte den Vorteil, dass sie sehr sauber war. Ein fast sterbendes Leben, aber wir hofften, wir machten uns etwas vor, wir glaubten an Gott.
Ich erinnere mich an einen Tag, an dem Opa sehr wütend nach Hause kam und links und rechts auf L, V, G schimpfte, auf alle Potentaten der damaligen Zeit (die Dorfvorsteher), die ehemaligen Kuhhirten und Strolche, die jetzt zu großen kommunistischen Persönlichkeiten geworden waren.
Aber was war sein Schmerz? Es war etwas ganz anderes. An diesem Tag war er auf dem Friedhof gewesen, erfüllt von wer weiß was für einer inneren Sehnsucht, oder Nostalgie, oder vielleicht Trauer (sein Sohn Willy war im Krieg gefallen), und das nagte an ihm. Außerdem hatte er Freunde, Verwandte, Bekannte, die dort begraben waren. Er war auf dem Friedhof gewesen, und der Zustand des Friedhofs machte ihn unruhig. Sie, die Toten, blieben seine und unsere wirklichen Freunde, denn alle anderen Deutschen (Verwandte, Freunde, Bekannte), fast die ganze Gemeinde, waren nach Deutschland gegangen. Er vermisste sie, bereute, nicht mit ihnen mitgegangen zu sein, und ging oft heimlich auf den Friedhof, weil er ihnen, den Toten, näher war, denn die anderen waren für immer weg. Hier wurden er und unsere Familie mit den verbliebenen Deutschen wiedervereint. Von einer großen Gemeinschaft von mehr als 1500 Seelen gingen alle weg, und nur fünf Familien blieben zurück, einschließlich uns.
Wenn ich mit Großvater spazieren ging, sah ich ihn oft vor einem Kreuz stehen, mit dem Gesicht nach unten, düster, traurig, minutenlang regungslos, Worte murmelnd, die ich nicht verstand, und gestikulierend wie in einem imaginären Gespräch. Ein schrecklicher Schmerz drückte auf ihn, er wirkte so alt und abwesend, dass er mir leid tat. Er ging an einigen Gräbern und Kreuzen vorbei und schien sie zu begrüßen, bei anderen verbeugte er sich oder bückte sich und zeigte auf das Kreuz, das in einer Reihe stand, bei wieder anderen stellte er die Urne für die Blumen auf oder bückte sich und zupfte ein Unkraut von einem Grab.
Dieses Gespräch des Großvaters mit den Toten oder mit den Gräbern, diese überwältigende Traurigkeit, sollte ich erst viel später verstehen, und seitdem war Großvater Julius für mich fast ein Held geworden, ein ganz besonderer Mensch – so wie er eigentlich war.
Opa war ein strenger Mann. Wir hörten alle auf ihn und wagten nicht, ihm zu widersprechen. Er war sehr intelligent, klug, beherrschte drei bis vier Sprachen, hatte große Persönlichkeiten der damaligen Zeit kennengelernt, die seine Freundschaft suchten. Er hatte vor nichts und niemandem Angst. Er war hoch angesehen und selbst unsere Feinde respektierten ihn und hatten sogar Angst vor seinem Charakter.
Er kam, wie gesagt, wutentbrannt nach Hause und rief uns alle in das Straßenzimmer, wo er ohne jede Vorrede knapp sagte: „Gil, ich war heute auf dem Friedhof und habe die Gräber unserer Leute gesehen, deren Angehörige nach Deutschland gegangen sind und die hier keine mehr haben. Ihr Zustand ist unchristlich, erbärmlich, die Kreuze sind zu Boden gefallen, sie liegen auf dem Boden, das Gras hat sie bedeckt und sie sind nicht mehr zu erkennen. Heute Abend, wenn es dunkel wird, nimmst du Tina und Lenuta und gehst hin und bringst sie in Ordnung – egal was passiert!“
Als sie das hörten, fingen meine Mutter und Tante Tina (Leontina) an zu weinen, denn sie hatten Angst, nachts auf den Friedhof zu gehen, zumal unsere Familie in letzter Zeit überwacht worden war. Großvater schimpfte mit ihnen, gab aber schließlich nach, als er sie vor Schreck entstellt sah.
Dann sagte Papa mit gedämpfter Stimme: „Lass mich heute Abend mit Willy gehen. Er wird auf mich aufpassen, und ich werde die Gräber putzen, die Kreuze aufrichten und das Gras von ihnen entfernen.“ Dann sagte Großvater zu meinem Vater mit einer kaum geflüsterten Stimme voller Traurigkeit: „Sei vorsichtig, Gil, du kannst sehen, dass sie uns beobachten. Pass auf den Jungen auf, denn er ist noch klein, und wenn etwas passiert, lauf an den Tașaul See und lass dich nicht erwischen. Wenn sie uns besuchen, werde ich ihnen sagen, dass du mit dem Jungen nach Konstanta gefahren bist, weil er krank ist. Pass auf, dass du keinen Lärm machst, und schärfe bitte die Hacke gut, damit sie keinen Lärm macht“. Als sie das hörten, begannen alle drei Frauen im Haus laut zu weinen, aber sie konnten dem alten Mann nicht widersprechen. Papa konnte sich nicht von seinen Worten lösen, also nahm er es stillschweigend und selbstgefällig hin. Es war eine neue Operation. Auf einem Friedhof an Gräbern zu operieren und dabei von einer doppelten Angst ergriffen zu werden: der Angst vor den Toten im Grab, die man bei Einbruch der Dunkelheit stört, und der Angst, von den damaligen Gutmenschen entdeckt zu werden und die Konsequenzen dafür zu tragen, dass man mit den Toten der faschistischen Verwandten sympathisiert hat, die in Deutschland sind und von dort aus gegen unser liebes Vaterland intrigieren.
Was ging damals in meiner Seele vor? Ich war ein acht bis neun Jahre alter Junge. Ich hatte Angst vor dem Gedanken, nachts auf den Friedhof zu gehen. Tagsüber hat es mir gefallen, aber nachts? Ich hatte eine wilde, animalische Angst, ich war vor Schreck wie gelähmt, und den ganzen Tag habe ich nichts gegessen. Das war vielleicht das größte Abenteuer meines Lebens (ich hatte später noch andere, aber das war das erste und unvergessliche). Ich erlebte es an der Seite meines Vaters. Der Tag verging eintönig und ruhig. Großvater lag im Bett und starrte minutenlang auf die Uhr an der Wand, die Viertel für Viertel die Stunde schlug. Oma flickte Vaters Hemden und Unterhosen und weinte dabei immer, Mama war in der Küche und Tante Leontina machte Teig für einen Kuchen. Papa war im Stall und schärfte die Hacke, hielt von Zeit zu Zeit inne und rauchte, nachdenklich und niedergeschlagen von den Bedürfnissen des Haushalts. Auf dem Hof scharrten einige Hühner in der Erde und zogen kleine weiße Würmer heraus, die sie gierig fraßen und sich dann im Staub wälzten, der wie heiße Asche war.
Vor unserem Haus hatten wir einen Obstgarten mit allerlei Obstbäumen, der uns im Sommer vor dem Hunger bewahrte und uns Schatten spendete. Abends kam die Dorfherde die Dorfstraße entlang, und ich hockte voller Angst oben auf dem Zaun, denn in der Herde gab es ein paar gemeine Buhai (Stiere), die hinter den Menschen her waren und vor denen alle Kinder Angst hatten.
Nach einer Weile kam ein aromunischer Nachbar, Docu, dessen Haus hinter unserem stand, und brachte dem Großvater eine Schale mit Milch. Sie unterhielten sich, so lange sie konnten – er war ein zuverlässiger Nachbar, ernsthaft, ein vertrauenswürdiger Mann wie alle Aromunen – dann ging er. Die Zeit verging, es wurde dunkel, und ich wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass Vater mich rufen würde. Nach einer Weile kam die Großmutter und rief uns zum Abendessen. Nur wir wussten, wie wir aßen, in überwältigendem Schweigen, ohne dass einer von uns ein Wort sagte.
Nach dem Essen machten wir das Abendgebet, und Opa rief Papa ins Nebenzimmer, um ihm zu sagen, wer weiß was, oder um ihm Anweisungen zu geben, wie und was er tun sollte. Sie unterhielten sich, es verging eine ganze Weile, und dann kam Papa herein, und Opa folgte ihm. Papa trug ein paar alte Kleider, die er schon lange nicht mehr getragen hatte, er war völlig verändert, fast nicht wiederzuerkennen. Dann verstand ich, dass sie im Nebenzimmer einen Dreh ausheckten. Sie zogen mir einen von Papas langen Mänteln an und setzten mir eine Nachtmütze von Oma auf den Kopf. So ausgerüstet gingen wir hinaus in die dunkle Nacht. Papa hatte sich schon tagsüber darum gekümmert, die Scharniere der Tür zu schmieren, damit sie nicht quietschten, wenn wir sie öffneten.
Ich machte die Haustür einen Spalt breit auf, es war stockdunkel im Haus, wir warteten und lauschten ein paar Minuten lang, dann schlichen wir auf Zehenspitzen um die vordere Mauer herum zum hinteren Teil des Hofes. Hier blieben wir eine Weile stehen und lauschten, ob sich etwas im Haus oder im Hof tat, und dann traten wir wie zwei Schatten in die dunkle und geheimnisvolle, gespenstische Nacht. Ich hielt mich an Papas Mantel fest, und bei jedem Geräusch sprang ich auf, zitterte wie Espenlaub und lauschte und spitzte vorsichtig die Ohren. Ich konnte mir das erstarrte Entsetzen auf Mutters und meiner Tante Gesichtern nicht aus dem Kopf schlagen, als wir gingen, die traurige Gestalt von Opa und die Dutzende von Kreuzen, die Oma hinter uns machte und immer wieder wiederholte: „Möge Gott euch beistehen, so dass ihr zurückkehrt“ Ich werde nie den Schluckauf und das ruckartige Schluchzen meiner Mutter vergessen, ihre erdrückende Umarmung und ihre Brust, die nass war von den heißen Tränen, die unaufhörlich flossen. In diesem Moment wurde mir klar, was Mutterliebe ist und dass das, was wir taten, etwas sehr Ernstes war, wenn meine Mutter so sehr litt, wie alle anderen auch.
Wir umgingen den Rand des Dorfes und hielten am Deutschen Kreuz am Rande des Viertels. Wir lauschten, um zu sehen, ob wir nicht verfolgt wurden, und zogen uns in ein paar herumliegende Unkräuter zurück. Da wir nichts Gefährliches sahen, standen wir auf, und dieselben Schatten, die in der dunklen, menschenleeren Nacht umherwanderten, setzten ihren Weg fort, um einige verwahrloste Gräber zu retten und so eine christliche Geste in dieser barbarischen, ungläubigen, atheistischen Welt zu machen. Vor lauter Angst und Schrecken weiß ich nicht einmal, wie viel Zeit verging, aber plötzlich standen wir vor einer hohen, dunklen Steinmauer. Ich berührte sie, fühlte ihre Rauheit und Kühle. Es war stockdunkel, und weiße Wolken zogen über den Himmel wie Gespenster der kosmischen Nacht. Ein kalter, scharfer Wind wehte aus dem Norden, aus Pazarlia (Târgușor), und ließ die Blätter der Bäume sich bewegen und ein Geräusch erzeugen, ein Rauschen, das für eine unruhige, aufgewühlte Nacht charakteristisch ist.
Aus den Wolken entkommend wie aus einem Gefängnis, tauchte der Mond kaum auf und verschwand gleich wieder hinter den Gittern der Dunkelheit. Ich weiß nicht, wie lange ich verweilte, aber plötzlich stand Vater auf, hob mich plötzlich auf die Steinmauer des Friedhofs, die ich wie ein Pferd überspannte, gab mir die Hacke, und dann bestieg er mit einer Schnelligkeit, die ich bei Vater schon lange nicht mehr gesehen hatte, die Mauer und sprang in den Friedhof hinein. So betraten wir den Friedhof, wie Diebe im Reich der längst Verstorbenen, und weckten sie in dieser dunklen kommunistischen Nacht wie aus dem ewigen Schlummer. Mein Vater kannte den Friedhof gut, alle Wege, die Gräber, und er ging lautlos um sie herum.
Plötzlich wurde die unerschütterliche Stille der Nacht von einer Eule durchbrochen, die ihrer Beute nachflog. Ein wenig über uns flogen ein paar Fledermäuse, die mit den Flügeln schlugen und in einer seltsamen Flugbahn flogen.
Nachdem mein Vater von Großvater Anweisungen erhalten hatte, welche Gräber er pflegen sollte, machten wir uns auf den Weg zur Nordecke des Friedhofs. Hier hielten wir an, Papa überprüfte ein paar Gräber, dann andere, und langsam trennte er sich von mir. In der Nacht konnte ich kaum ahnen, wo er war. Ich war wie er starrt vor Angst, und alle möglichen makabren Dinge und Vorstellungen von Toten, Untoten, Iele, Teufeln, Werwölfen und Hexen schossen mir durch den Kopf, und meine Ohren klingelten fürchterlich. Dann näherte sich mein Vater einem Grab in meiner Nähe und begann ganz vorsichtig, das Gras zu mähen, indem er die Hacke ein-, zwei- oder dreimal sanft anschlug, und dann stand er angespannt da und lauschte.
Er arbeitete so an einem Grab, zwei, drei... ich weiß nicht, wie viele es waren. Bei diesen Gräbern waren die Kreuze um gefallen oder standen schief. Ich weiß nur, dass ich rückwärts stand und die schweren Steinkreuze auf meinem Rücken stützte, damit sie nicht ganz umstürzten, und mein Vater vertiefte die Löcher, um sie besser zu befestigen, und klopfte dann vorsichtig mit dem Fuß auf den Boden, damit sie aufrecht standen. Ich kann mich nicht erinnern, auf wie vielen Gräbern wir die Kreuze aufgerichtet haben, aber ich weiß noch, wie leicht es bei den hölzernen Kreuzen war, weil sie leichter waren als die steinernen. Die Zeit verrann im Dunkeln.
An den Steinkreuzen ertastete ich mit den Fingerspitzen die für das Foto vorgesehene Stelle und sagte zu mir: „der ist alt, der ist jung, das ist ein Kind, das ist eine Braut oder ein Bräutigam.“ Irgendwann wurde ich müde und sagte meinem Vater, wir sollten uns ausruhen. Wir suchten Schutz hinter einem großen Kreuz, vor dem das frische Grab eines Menschen lag, der zwei Tage zuvor gestorben war. Von dem Grab duftete es nach Lilien und Wildblumen. Aber der Geruch, der auf dem ganzen Friedhof vorherrschte, war der von Wermut und wildem Thymian. Wir lauschten dem wandernden Wind in der Nacht und der Mond wurde immer deutlicher.
Ich blieb so lange sitzen, wie ich konnte, und spürte die Kühle unter mir, und wenn ich meine Hand auf den Boden legte, fühlte sie sich nass an. Zwei Tage zuvor hatte es im Dorf stark geregnet, ein heftiger Sommerregen mit viel Wasser. Dann streckte ich meine Hand aus und begann, das Gras hochzuziehen. Ich sah, dass es leicht herauskam, und ich sagte zu meinem Vater, indem ich ihm leise ins Ohr flüsterte, dass es besser sei, es gemeinsam herauszuziehen als zu hacken, weil wir dabei keinen Lärm machen. Papa bückte sich und versuchte es auch mit dem Gras, und als er sah, dass es leichter ging, näherten wir uns einem Grab und begannen, das Unkraut zu jäten. Wir sahen, dass es funktionierte, und begannen, die Gräber auf diese Weise schneller vom Unkraut zu befreien. Auch hier weiß ich nicht, wie viel wir geschafft haben, aber irgendwann hielten wir an, um uns auszuruhen. Jetzt hatte ich den schlimmsten Schreck meines Lebens. Als wir so dasaßen und uns ausruhten, hatte ich ein Gefühl des Grauens und der Kälte. Als ich mit ausgestreckter Hand neben meinem Körper saß, kletterte eine große, kalte, nasse, klebrige Nachtschnecke langsam an mir hoch und weckte mich mit einem Schrecken aus meinen Träumen. Ich streckte meine andere Hand aus und fühlte etwas Kaltes und Klebriges, woraufhin ich einen gellenden Schrei ausstieß und mir sofort den Mund mit Papas großer, schwerer Handfläche verschloss. Es fühlte sich an, als hätte ich meine Hand auf einen Toten oder so etwas gelegt, ich hatte das Gefühl von etwas Grausigem, Unheimlichem. Ich weinte in wiederholten Schluchzern, Papa wusste nicht, was mit mir geschehen war und wie er mich beruhigen konnte. Papa, das konnte ich spüren, war noch verwirrter als ich. Nachdem ich mich beruhigt hatte, erzählte ich Papa alles, was ich fühlte. Dann sagte er mir mit seiner gewohnten Gelassenheit, dass es eine Nacktschnecke (Limax) sei und dass er beim Ausreißen des Grases seine Hände auf viele gelegt habe, und dass ich keine Angst haben solle, es sei nicht das, was ich mir einbilde. Schließlich beruhigte ich mich, aber ich werde nicht sagen, was in meinem Herzen vorging, und, unglaublich, von da an bis heute bekomme ich jedes Mal, wenn ich eine Limax sehe, das gleiche seltsame Gefühl von eisigem Schauer, der meinen ganzen Körper kribbelt.
Überall war wieder Stille eingekehrt, nur zwei Schatten krochen zwischen den Gräbern umher und zeichneten unentzifferbare Muster auf die schwarze Leinwand der Nacht. Die Kirchenuhr schlug halb drei in der Nacht.
So sitzend, in der Träumerei der Nacht, hört man plötzlich das Tor am Eingang des Friedhofs rasseln, und die Kette, mit der das Tor verschlossen war, klingt metallisch. Ich erschauderte. Ich weiß nicht, was in Vaters Seele war, aber ich weiß, dass ich seine Hand spürte, die mich fest drückte. Gefahr! Wir legten uns sofort auf den Bauch und blieben eine Weile still liegen und lauschten wie zwei gejagte, bedrohte, verfolgte Tiere. Wieder hörten wir, wie das Friedhofstor aufgebrochen wurde, aber es öffnete sich nicht, weil es mit einer dicken Kette verbunden war, an der ein Vorhängeschloss hing, das diejenigen, die den Eingang aufbrechen wollten, nicht kannten. Es verging einige Zeit, und mein Vater flüsterte mir zu, ich solle ihm folgen, und wir krochen auf dem Bauch zur gegenüberliegenden Ecke des Friedhofs. Wir erreichten die Mauer, standen einen Moment so da und schauten zu, dann sprang Vater plötzlich auf, setzte mich auf die Mauer und war mit einem fast akrobatischen Sprung auf der anderen Seite der Mauer, dann hob er mich von der Spitze der Mauer, und in einem fast kaninchenartigen Lauf, auf Zehenspitzen und mit der Hacke in der Hand, liefen wir in der Dunkelheit weg von der Friedhofsmauer und lagen wieder auf dem Boden und lauschten, was hinter uns und um uns herum geschah. Wir wussten nicht, was vor sich ging, aber wir wussten, dass eine große Gefahr bestand. Wir warteten noch einen Moment, dann umgingen wir den Friedhof wie zwei Übeltäter und kehrten nach Hause zurück.
Was war geschehen? Unsere Verfolger, die uns seit dem Verlassen des Hauses gefolgt waren und als sie den Hackenstoss nicht mehr gehört hatten, dachten sich, wer weiß, was wir dort taten. Da die Mauer zu hoch war, versuchten sie, durch das Tor einzudringen, aber da sie nicht wussten, dass das Tor angekettet und mit einem Vorhängeschloss versehen war, klapperte das Tor, als sie es aufstießen, und warnte uns so zu unserem Glück. Auf diese Weise entkamen wir, da wir sonst am Ort des Verbrechens gefangen gewesen wären. Wie zwei verwundete Wesen näherten wir uns dem Dorf und dann dem Haus, nur durch Dunkelheit und schmuddelige Orte. Wir hatten Angst, den Innenhof zu betreten. Ich spürte es an Vaters Zustand, an seiner Aufgewühltheit, die er mir wie ein Funktelefonat übermittelte. Ich vergaß zu erwähnen, dass, als wir bäuchlings vor dem Friedhof saßen, nachdem wir hinausgegangen waren, seltsame Geräusche vom Friedhof kamen, wahrscheinlich, weil die Verfolger die Topographie des Geländes nicht kannten und über die umgefallenen Kreuze stolperten, was diese dumpfen Geräusche, sowie Geräusche von wacheren Schritten verursachte. Wahrscheinlich wollten sie uns bei der Tat erwischen, damit sie in den Berichten, die sie schrieben und nach oben schickten, etwas zum Rühmen hätten. Viel später fand ich heraus: Die Kommunisten dachten, wer weiß was für deutsche Geräte wir dort auf dem Friedhof versteckt hatten oder andere teure Dinge. Sie konnten sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen, dass wir uns nur um die Gräber kümmern würden.
So standen wir eine unbestimmte Zeit am Rande unseres Gartenzauns, dann betraten wir durch die Lücke – die nur ich von meinen Abenteuern kannte – den Garten durch den dunkelsten Teil, der vom Schatten der Bäume verdeckt war und näherten uns dem Heustapel. Unsere Rettung! Hier, im Heustapel, spielte ich tagsüber und baute eine Galerie in der Mitte, wo ich einen größeren Raum hatte und meine Sachen und mein geheimes Spielzeug auf bewahrte. Hier war mein privater Zufluchtsort, den niemand kannte. Der Heustapel war für mich das Wunderland. Hier, in ihm, verbrachte ich meine Tage. Es war mein liebster geheimer Zufluchtsort. Es war meine Welt, in der ich alle meine Geheimnisse verbarg. Es war eine Festung, uneinnehmbar für das Auge, unbekannt für jeden. Hier deponierte ich meine Spielsachen, Tauben, Kätzchen und Welpen, die ich von den Nachbarn bekam. Hier hatte ich meinen Schatz, den niemand kannte und den sich niemand vorstellen konnte. Die Welt meiner Kindheit für eine Weile, hier war sie.
Ich war isoliert von den anderen Kindern, die nicht mit mir spielen wollten, weil ich Deutscher war. Ihre Eltern erlaubten es ihnen nicht, weil sie Angst vor den Konsequenzen hatten. Ich war isoliert, also musste ich einen Zufluchtsort finden, wo ich spielen konnte, wo ich meine Tätigkeiten als Kind ausüben konnte.
Wie ich schon sagte, hatten wir Angst, uns dem Haus zu nähern. Der Tau war auf uns gefallen, und unsere Kleider waren nass, und uns war kalt. Dann ließ ich mich am Heustapel entlang auf alle Viere fallen und zog Papa hinter mir her in mein Versteck, wo es warm und gemütlich war. Wir fühlten uns geborgen, zogen unsere nassen Kleider aus, legten uns ins Stroh und auf die Decken, die ich aus dem Haus mitgenommen hatte und die Mutter so lange gesucht hatte, bis sie sie endlich mal aufgegeben hat. Papa roch fürchterlich nach Schweiß, nach der Anstrengung, die er hinter sich gebracht hatte. Ich saß im mer noch da und lauschte leise, als plötzlich leichte Schritte um den Heustapel herum zu hören waren. Dann hörte ich einen Mann, der sich an den Heustapel lehnte und sich vorsichtig hinunterbeugte, schweigend dasaß und lauschte.
Wir, die innen saßen, waren die Gejagten, sie, die draußen saßen, waren die Jäger. Der Klassenhass und die Verfolgung waren so groß, dass sie zu allem fähig waren, denn diejenigen, die sie ausführten oder vollstreckten, waren ungebildete, gefühllose Roboter, sie waren die Schläger und die Dorfbesetzer, sie waren die Verarmten, die ein Leben lang nicht in der Lage gewesen waren, einen Haushalt oder ein Heim zu gründen, sie waren der Pöbel, das Lumpenproletariat, das man in den Wettlauf gelockt hatte, indem man ihnen eine Macht gab, die sie nicht nur nicht verdienten, sondern nicht einmal zu nutzen vermochten. Sie waren diejenigen, die den Platz der ehemaligen führenden Dorfbewohner einnahmen. Sie waren arme, abscheuliche Werkzeuge, die zu jedem Verbrechen fähig waren. In unserem Fall bin ich mir sicher, dass unsere Verfolger, wenn sie wüssten, dass wir uns im Heustapel versteckten, uns dort bei lebendigem Leibe verbrennen würden, denn der Hass war so groß und die Schwäche herrschte vor. Wir wären schon lange weg gewesen oder man fand eine Erklärung dafür: wir, die Feinde des Vaterlandes, hätten angeblich das Land ver lassen.
Zurück zu meiner Angst. Ich hörte meinen Herzschlag in meinen Ohren wie schreckliche Schläge, meine Haut wurde faltig, ich nieste von dem Strohstaub und hielt mir die Hände vor den Mund, um nicht zu brüllen. Es dauerte so lange, wir drinnen, sie draußen, es war ein Spiel auf Leben und Tod. Ich hörte nicht nur mein eigenes Herz, das in meiner Brust pochte, sondern auch Vaters Herz, das sich mit dem gleichen schnellen, pochenden Schlag zu meinem Herz gesellt hatte. Wir standen eingesperrt wie in einem Käfig, wie vor einer Falle, jede noch so kleine Unvorsichtigkeit von uns bedeutete das Verhängnis, bedeutete unsere Dekonspiration mit wer weiß welch schwerwiegen den Folgen. Eine lange Zeit verging, und plötzlich hörte man draußen das Rascheln von Strohhalmen, und der Mann draußen stand wahrscheinlich auf, lauschte noch ein wenig, und entfernte sich dann. Seine Schritte verloren sich in der Nacht, um nie gehört zu werden.
Die Dämmerung brach an. Unser böser und verwöhnter Hahn, Nackter Hals, der mir im Hof das Leben schwer machte, indem er mich ansprang, hatte schon längst zu krähen begonnen. Es wurde schon hell. Der Nachbar Docu war schon früh aufgestanden und schrie seinen älteren Sohn an, er solle auf stehen und das frisch gemähte Gras auf den Heustapel legen. In der Zwischenzeit war ich fest eingeschlafen. Als ich die Augen aufschlug, hatte Papa in unserer Stube ein Menge Zigaretten geraucht, die er nachher in einem Spieß auf dem Palmenboden ausgedrückt hatte. Er war blass, und seine schönen blau-violetten Augen, um die ich ihn immer beneidet habe, weil ich sie nicht wie seine hatte, leuchteten wie zwei Engel aus dem Gewölbe der vergangenen Nacht. Wir fassten Mut und kamen mit großer Vorsicht aus unserem Versteck. Der Großvater Virgil Wisosenschi Wir machten uns schnell auf den Weg nach Hause. Wir klopften an das Fenster und sofort öffnete Tante Tina die Tür. Wir traten bußfertig ein. Die Frauen weinten, nur Opa war wie ein Granitfels, stark und beherrscht.
Mein Vater erzählte ihnen alles, was uns widerfahren war, die ganze Tortur dieser Nacht. Wir wurden tatsächlich beobachtet, denn sobald wir das Haus verließen, hörte man Schritte auf dem Hof, um die Fenster und um das Haus herum, die ihn mehrmals umkreisten. Was war geschehen? Eine Woche zuvor war Großvater zur Miliz gerufen worden, um eine Aussage über zwei deutsche Offiziere zu machen, die während des Krieges im Ort stationiert waren, und zwar über den Rang der Offiziere, wie lange sie sich dort aufgehalten hatten, was sie besprochen hatten, ob er weiteren Kontakt zu ihnen hatte, ihre Adresse usw. Großvater war in allem berechenbar und ließ sich zu nichts hinreißen. Sie versuchten, ihn zu ködern und ihn zu einem Kollaborateur zu machen, aber das klappte nicht. Großvater wies sie diplomatisch und taktvoll zurück. Aus diesem und anderen Gründen stand unser Haus unter ständiger Überwachung, was wir ahnten, denn alle Deutschen im Dorf wurden von den roten Flöhen/Informanten unter Kontrolle gehalten, die direkt mit der Sicherheitsbehörde zusammenarbeiteten und sogar die örtlichen Milizionäre übersprangen, die voller Laster waren und bei einem zusätzlichen Drink mit ihren Heldentaten und Jagderfolgen prahlen konnten und daher Verbindungen zu den roten Ratten aus dem Landkreis hatten.
Diese Agenten waren die gefährlichsten, und weil sie geschult waren, wie man arbeitet, waren sie geheimnisvoll und machten die ehrlichsten und freundlichsten, hilfsbereiten, beratenden, vermeintlich netten Menschen. Unmittelbar nach dem Krieg war die Welt der Dörfer voll von solchen Agenten, die die Erfolglosen und Unerfüllten des Schicksals waren, die im Austausch für kleine und unbedeutende Vorteile ihre Seele an die bolschewistischen Heiden verkauften und ihre Freunde, Nachbarn, Verwandten anhackten. So weit ist es gekommen, dass Pawlik Morosow, jener komsomolistische Student, der seine Familie an die russischen Bolschewiki verkaufte, uns in der Schule als ein großer Held dargestellt wurde. Nach seinem Vorbild, wurden die Kinder in der Schule ermutigt, ihre Brüder, Väter, Großeltern zu „entlarven”. Die Brüder, Väter, Großeltern, die sich mit viel Mühsal und Quälerei, mit viel Angst und vor allem mit viel Mut diesem menschenverachtenden Quotensystem widersetzten, es riskierten, einen Sack zu dosieren, damit der Steuereintreiber ihn nicht mitnimmt, so dass es der Familie auch etwas zu essen übrig blieb.